LEIPZIGER ZEITUNG/ Auszug Ausgabe 86, seit 18. Dezember 2020 im HandelAm 14. November 1990 greifen bis zu 4.000 Polizisten mit Wasserwerfern und Räumpanzern die rund 500 Hausbesetzer in der Mainzer Straße in Ostberlin an. Die Straßenschlacht dauert fünf Stunden. Ein junger Mann aus der sächsischen Kleinstadt Groitzsch ist mittendrin: Jörg Tretschok.

Tretschok ist heute 55 Jahre alt und lebt in Leipzig. Damals wohnt er in einem besetzten Haus am Prenzlauer Berg. Aus Solidarität will er die Mainzer Straße verteidigen und wird, wie er rückblickend erzählt, im Steinhagel am Kopf verletzt. Ein Gespräch über die gewaltsame Räumung, alternative Wohnformen und leerstehende Häuser in Leipzig.

Herr Tretschok, haben Sie in diesem Jahr schon darauf angestoßen, dass Sie noch am Leben sind?

Ja, mit meiner Frau und meiner zehnjährigen Tochter am Küchentisch mit Saft und Bier. Ein zweiter Geburtstag im laufenden Jahr …

Die Räumung der Mainzer Straße im Ostberliner Stadtteil Friedrichshain ist jetzt 30 Jahre her. Was hatten Sie damit zu tun?

Ich habe damals am Prenzlauer Berg in einem besetzten Haus gewohnt. Es war ein solidarischer Gedanke, gemeinsam die besetzten Häuser gegen Angriffe durch Nazis und Polizisten zu schützen. Die Adelbertstraße wurde oft in der Nacht durch Nazis angegriffen, da waren wir als Hauskollektiv der Schliemannstraße 39 auch zur Hilfe geeilt. Es gab damals einen gemeinsamen Häuserrat. Da trafen sich Vertreter der einzelnen besetzten Häuser.

Ein Bild des Presse-Fotografen Harald Hauswald zeigt Sie auf einer Trage umgeben von Polizisten. Was war passiert?

Wir, also meine damaligen WG-Mitbewohner und ich, waren schon seit dem Vorabend in der Mainzer Straße. Wir hatten uns gut verpflegt. Ich hatte zum Schutz vor Tränengas eine NVA-Gasmaske aus Vollgummi über meinen Kopf gezogen und darüber eine Kapuze. Es war noch im Dunklen in der Früh, als es losging.

Rechts und links von mir Besetzer, Sympathisanten und Autonome in angespannter Haltung. Die Polizei war hinter den Barrikaden nur zu erahnen. Von einem Balkon tönte Carmina Burana von Carl Orff. Es war eine gespenstische Kulisse. Exakt beim letzten Takt der Musik flogen die ersten Steine und Molotowcocktails.

Das Titelblatt der LEIPZIGER ZEITUNG Nr. 86, Ausgabe Dezember 2020. Foto: Screen LZ

Und Sie wurden getroffen …

Es war ein einziger Steine- und Tränengasgranatenhagel. Dazwischen Flammen von aufschlagenden Mollis. Bei Tageslicht stellten wir fest, dass die Polizei nach uns ebenfalls mit Pflastersteinen warf. Also gingen wir in Deckung – hinter einer Litfaßsäule war mein letzter Versteckpunkt. Von da ab fehlt mir ein Stück Bewusstsein. In einem Hausflur, einige Häuser weiter weg, bin ich wieder zu mir gekommen. Um mich herum standen mehrere Autonome. Ich saß mit dem Rücken an die Wand gelehnt, auf dem Fußboden, und war voller Blut auf meinem Oberkörper und im Gesicht.

Dort bekam ich eine Zigarette angezündet und verweilte kurze Zeit. Später packten mich autonome Sanitäter auf eine Krankentrage, schleppten mich angeschnallt über mehrere Gräben in die Mainzer Nummer 5, glaube ich, da war eine Sanitätsstelle von den Hausbesetzern eingerichtet worden. Dort wurde ich auf einem umgelegten Türblatt am Kopf rasiert, betäubt und genäht. Es fühlte sich an wie altes Schuhleder, welches zusammengezogen wird.

Hört sich an, als wären Sie im Krieg gewesen.

Es war eine Mischung aus Rummel und Krieg. Kaum, dass ich verarztet und verbunden war, stürmte die Polizei das Haus. Ich sah Kettensägen, Äxte und Brechstangen. Sofort wurde an mir herumgezerrt, ich solle aufstehen und mich in die Ecke stellen. Aus eigenen Kräften war ich dazu nicht in der Lage. Da wurde ich hochgezogen und auf einem Stuhl platziert. Es wurden Personalien aufgenommen und jede Menge Fotos gemacht.

Geraume Zeit später wurde ich durch das Trümmerfeld der Mainzer Straße zur Frankfurter Allee transportiert und dort abgestellt. Neben einem Krankenwagen, umringt von Dutzenden Polizisten und Fotografen. Nach einer Weile wurde ich dann mit Blaulicht und Verdacht auf eine offene Schädelfraktur ins Krankenhaus nach Moabit gefahren. Der zuständige Mediziner vor Ort war über die gute Erstversorgung sehr erstaunt.

Es war das Jahr nach der Friedlichen Revolution. Was hat zu dieser gewaltsamen Eskalation geführt?

Im Dezember 1990 standen Neuwahlen des Abgeordnetenhauses für Gesamtberlin an. Da wollten einige Herren gut sauber machen, es sollte keine weitere Vergrößerung der Hausbesetzerszene geben. Zu dieser Zeit waren rund 150 Häuser in Ostberlin besetzt.

Das Saubermachen verhindern zu wollen, hätte Sie fast das Leben gekostet. Ein hoher, ein zu hoher Preis, finden Sie nicht?

Ich würde in genau der gleichen Situation unter den gleichen Bedingungen wieder so handeln – mit einem Unterschied: Meinen Mopedhelm würde ich aufsetzen, um besser geschützt zu sein.

Eine Narbe erinnert Sie für alle Tage an diese Straßenschlacht. Welche Spuren hat der 14. November 1990 noch bei Ihnen hinterlassen?

Grundsätzlich schaue ich seit diesem Datum sehr skeptisch auf alle Verlautbarungen von Politikern zu diesem Thema, egal welcher Partei sie angehören. In Berlin bildeten SPD, Alternative Liste und der Ostberliner Magistrat die Regierungskoalition. Es prägte sich mir der damalige Szenespruch tief ein: „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten! Wer verrät uns schneller? Die ALer!“

Regierender Bürgermeister in Berlin war Walter Momper. Er und sein Innenminister waren aus meiner Sicht hauptverantwortlich. Momper ist später in eine Immobilienfirma eingestiegen und die Mainzer Straße war eine der ersten durchsanierten Straßen in Ostberlin.

Sie haben selbst in einem besetzten Haus gewohnt. Warum musste es unbedingt ein besetztes Haus sein? Die Ostmieten waren doch noch recht erschwinglich …

Es war der Wunsch nach selbst gestalteter Hausgemeinschaft, zusammenzuwohnen mit Leuten, die man mag, die Räume umzubauen, den Bedürfnissen der Gemeinschaft anzupassen. Wichtig für mich und meine Freunde war es, uns auszuprobieren im Sozialen, Handwerklichen, Kochtechnischen und Kommunikativen – Erfolg und Misserfolg zu erleben.

Es wurden jede Menge Wanddurchbrüche gemacht und auf der anderen Seite vorhandene Türen zugemauert, WG-Küchen erweitert und andere kleinere Baumaßnahmen umgesetzt. Die Häuser standen ja schließlich nicht ohne Grund leer. Sie sollten wegen Baumängeln saniert werden, was aber nicht geschah.

Wie lief die Besetzung ab? Und wie ging sie zu Ende? Wie in der Mainzer Straße?

Wir mussten schnell handeln, denn es zogen schon massenhaft Leute in unser Haus ein. Wir zogen in die zweite Etage. Die Wohnungstüren waren in der Regel verschlossen, ein, zwei, drei gezielte Fußtritte an der richtigen Stelle, da ließen sie sich öffnen. Die anschließende Reparatur war überschaubar, ein neues Schloss schnell eingebaut, meist ein sogenanntes Türzusatzschloss sicherte das neue Heim. Ich bewohnte ein kleineres Zimmer nach hinten raus, mit Blick auf eine wunderschöne Kastanie.

Nach zwei Jahren zog ich wieder aus, zu meiner damaligen Freundin nach Pankow. Die Bewohner des besetzten Hauses bekamen Einzelmietverträge, das Haus wurde Jahre später einer stadteigenen Sanierungsfirma übertragen, für die Mieter gab es Umsetzwohnungen für die Zeit der Bauaktivitäten. Die Firma ging Pleite und die Bewohner konnten nie in das Haus zurückziehen.

Luxussanierungen und steigende Mieten sind in Berlin schon länger ein großes Thema. Wurde in der Mainzer Straße nicht nur eine Straßenschlacht, sondern auch der Kampf um preiswerten Wohnraum und alternative Wohnformen verloren?

Der Kampf um alternative Wohnformen wurde nicht verloren, aber etwas Größeres zu erringen, also eine ganze Straße zu gestalten, einen ganzen Stadtteil wie zum Beispiel Christiania in Kopenhagen – das ist so nicht gelungen. Es gab immer mal wieder verschiedene Projekte in Berlin, wie die Schreinerstraße, wo die Leute ihr besetztes Haus gekauft und saniert haben. Schönen Gruß an meinen Freund Blase, in Memoriam.

Seit mehr als zehn Jahren leben Sie nun in Leipzig, in einer Mietwohnung. Welche Freiräume haben Sie sich bewahren können, welche haben sie aufgegeben?

Die Idee, doch noch einmal mit anderen Menschen ein Haus zu besetzen, ist noch nicht gestorben. Dazugelernt habe ich gruppendynamisch und handwerklich eine Menge, als Zimmermann, in einer Berliner Alternativbude in Kreuzberg. Eine durchgefaulte Deckenbalkenlage kann mich nicht mehr erschrecken.

Jörg Tretschok in der Ludwigstraße. 71. © Michael Billig
Jörg Tretschok in der Ludwigstraße. 71. © Michael Billig

Gentrifizierung ist auch in Leipzig kein Fremdwort mehr. Im August wurde im Osten der Stadt kurzzeitig ein Haus, die Ludwigstraße 71, besetzt. Die Besetzer wollten es in ein selbstverwaltetes und solidarisches Hausprojekt mit Werkstätten, Bars, Gemeinschaftsgarten und Wohnungen umwandeln. Erkennen Sie Parallelen zur Hausbesetzerszene im Berlin der Wendezeit?

Natürlich, der Jugend gehört die Zukunft! Wohnungsnot muss nicht sein, zieht in leere Häuser ein … und da gibt es in Leipzig noch eine Menge Häuser zu besetzen. Vielleicht fragt mich und meine Familie mal jemand, oder eine Gruppe, ob wir nicht mitmachen wollen.

Ihr Ernst?

Mein Ernst.

Haben Sie schon Ihre Frau und Ihre Tochter gefragt?

Wir überlegen schon länger, die „Einzelhaft“ zu verlassen und uns einer Gruppe anzuschließen.

„Vergessene“ Häuser in Leipzig: Impressionen des Verfalls + Bildergalerie, Update 13.10.2020 & Übersichtskarte

https://www.l-iz.de/politik/leipzig/2020/10/Vergessene-Haeuser-in-Leipzig-Impressionen-des-Verfalls-347491?highlight=h%C3%A4user

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