LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 85, seit 20. November im HandelDer Bundestag hat 1980 das Transsexuellengesetz beschlossen. Dessen Handhabung am Amtsgericht Leipzig wurde oft als diskriminierend kritisiert. Auch der seit 1988 bestehende Verein RosaLinde ist von dieser Praxis betroffen. Sein Angebot der psychosozialen Beratung zu Themen wie Geschlechtsidentität, Geschlechtlichkeit und sexuelle Orientierung richtet sich an queere Menschen und deren Angehörige aus Leipzig und dem Leipziger Umland.

Tammo Wende, zuständig für die Beratung durch die RosaLinde, berichtet im Interview mit der „Leipziger Zeitung (LZ)“ über die Hoffnung auf Abschaffung des Transsexuellengesetzes, die Rolle der sächsischen Justizministerin und die Praxis am Amtsgericht Leipzig.

Katja Meier ist seit 2019 Justizministerin des Landes Sachsen. Inwiefern hat sie die queere Community bisher gestärkt und was erhoffen Sie sich von Katja Meier bezüglich der Selbstbestimmungspraxis?

Katja Meier kann weder in die Unabhängigkeit der Richter/-innen eingreifen noch das Bundesgesetz auf Landesebene ändern. Sie kann aber durchaus in ihrem Haus selbst eine Vorbildfunktion einnehmen, sensibel mit vulnerablen Gruppen umgehen und sich für Diversitätsthemen interessieren.

Aus unserer Perspektive tut sie das auch. Zusätzlich kann sie Empfehlungen aussprechen und Anregungen geben, wie zukünftige Richter/-innen ausgebildet werden und welche Sensibilsierungsmaßnahmen im Umgang mit Transpersonen hilfreich sind, um die Prozedur für die Betroffenen angenehmer zu gestalten.

Im aktuellen Jahr wurden bei den Verfahren zur Vornamens- und Personenstandsänderung am Amtsgericht Leipzig in keinem Fall mehr als die zwei erforderlichen Gutachten eingeholt. Die kritisierte Praxis, zusätzliche Gutachten einzuholen, wird aber weiterhin fortgeführt. Wie stehen Sie zu dieser Praxis und wo sehen Sie weitere Kritikpunkte?

Das Titelblatt der LEIPZIGER ZEITUNG Nr. 85, Ausgabe November 2020. Foto: Screen LZ

Ich frage mich, wie Menschen sich gegen willkürliche Handlungen eines Richters oder einer Richterin wehren können. Es ist nachvollziehbar, wenn sich zwei Gutachten widersprechen, dass dann ein drittes Gutachten hinzugezogen werden muss.

Wenn aber von Anfang an schon drei Gutachten gefordert werden, obwohl im Gesetz steht, dass das Gericht einem Antrag nur stattgeben darf, „nachdem es die Gutachten von zwei Sachverständigen eingeholt hat“, dann verstehen das die Antragsteller/-innen nicht und sie erhalten auch keine Begründung.

Nirgends in Deutschland wurde so an Amtsgerichten verfahren. Und als wäre es nicht schon belastend genug, sich von drei fremden Menschen zu sehr intimen Dingen befragen zu lassen, muss das Gutachten von den Antragsteller/-innen auch noch selbst bezahlt werden. Ein Gutachten kostet zwischen 600 und 900 Euro.

Wer das Geld nicht hat, kann Prozesskostenhilfe beantragen und der Staat übernimmt diese Kosten in den meisten Fällen. Da kommt doch die Frage auf: Wozu müssen Menschen oder auch der Staat unnötig mehr Geld bezahlen, wenn es auch günstiger möglich wäre?

Wer trägt Ihrer Meinung nach die Verantwortung für die als diskriminierend kritisierte Auslegung des Transsexuellengesetzes am Amtsgericht Leipzig?

Schuldzuweisungen bringen nichts. Das Gesetz war damals, als es 1980 verabschiedet wurde, sehr modern und hat transgeschlechtlichen Menschen überhaupt ermöglicht, offiziell ihren Vornamen und Personenstand zu ändern. Jetzt ist das Gesetz sehr veraltet und einige Passagen, wie die Verpflichtung sich unfruchtbar machen zu lassen oder bestehende Ehen aufzulösen, wurden als verfassungswidrig eingestuft und ausgesetzt. Es wird Zeit für eine zeitgemäße, einfache Lösung.

Was ich mir dennoch aktuell vom zuständigen Richter am Amtsgericht Leipzig wünsche, ist ein angemessener und sensibler Umgang mit den Menschen. Man sollte darüber aufgeklärt werden, wenn sich fremde Personen mit im Raum befinden und zynische Bemerkungen wie „Die Gutachten sagen ja einigermaßen was aus“ – es handelte sich um zwei klar positive Gutachten oder „Ich könnte den Beschluss erlassen, soll ich?“ sollten einfach vermieden werden.

Hierbei handelt es sich um meine persönlichen Erfahrungen bei meiner Anhörung im Rahmen meiner Vornamens- und Personenstandsänderung. Auch sprachlich ist es möglich, die antragstellenden Menschen nicht permanent falsch anzusprechen, gerade wenn bekannt ist, warum sie da sind. Das ist eine Frage des Respekts.

Was erhoffen Sie sich von der Diskussion des Innenausschusses über die Gesetzesentwürfe bezüglich des Transsexuellengesetzes und der geschlechtlichen Selbstbestimmung? Entsprechen die eingebrachten Gesetzesentwürfe auch Ihren Vorstellungen?

Ich hoffe sehr auf eine baldige Abschaffung des Transsexuellengesetzes und die Einführung eines Selbstbestimmungsgesetzes. Es liegen von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der FDP-Fraktion gute Entwürfe vor. Was nicht passieren darf, ist eine Verschlimmbesserung. Ich erinnere an einen Entwurf, bei dem aus den zwingenden Begutachtungen zwingende Beratungen wurden.

Das ist wirklich keine Verbesserung, sondern lediglich eine Verschiebung einer fremdbestimmten, erniedrigenden Praxis. In den neuen Gesetzesentwürfen wird eine spezialisierte Beratung, wie bei uns in der RosaLinde, lediglich als Angebot aufgeführt.

Leipziger Zeitung Nr. 85: Leben unter Corona-Bedingungen und die sehr philosophische Frage der Freiheit

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