LEIPZIGER ZEITUNG/ Auszug Ausgabe 86, seit 18. Dezember 2020 im HandelEs ist landläufiger Brauch, mit einem herannahenden Jahreswechsel das endende Jahr Revue passieren zu lassen und sich Gedanken über die kommenden zwölf Monate zu machen: Welche Wünsche und Hoffnungen sind 2020 Realität geworden und welche verbinden sich mit dem Blick auf 2021? Letzteres bedeutet persönlich zudem eine besondere Zäsur, wenn man – wie ich – zum 31.12. das Alter erreicht hat, um regulär angesparte Rentenansprüche zu konsumieren.

Überlagert wird all dies indes von einem Problem, mit dem kaum jemand vor zwölf Monaten rechnen konnte: Der Stresstest für nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche infolge der Corona-Pandemie. Das Herunterfahren der sozialen Kontakte, mit dem versucht wurde und wird, die Ausbreitung des SARS-CoV-2 Virus zu verlangsamen bzw. einzuhegen auf ein notwendiges Mindestmaß, hat deren Fragilität und Verletzlichkeit in einem Maß offenbar werden lassen, wie seit Jahrzehnten nicht.

Und das in einer Situation, in der die sozialökonomischen und finanziellen – aber auch nicht zu unterschätzende mentale – Folgen sowohl der Finanzkrise von 2008 als auch der in ihrem Ausmaß historischen Migrationsbewegungen von 2015 bei weitem noch nicht ausgestanden sind. Hinzu kommen die, der bislang weitestgehend unbekannten Natur der Pandemieursachen und ihrer Folgen geschuldete offenbare Widersprüchlichkeit und Hilflosigkeit so mancher politischen Entscheidung.

Das Titelblatt der LEIPZIGER ZEITUNG Nr. 86, Ausgabe Dezember 2020. Foto: Screen LZ

All das hat bei einer sozialen und politischen Gemengelage zur Folge, dass sich Wünsche und Hoffnungen sowohl bei der Rückschau als auch beim Ausblick auf die kommenden Monate im Privaten und auch darüber hinaus stark relativieren – und eher von Sorgen überlagert werden. An sich hinreichender Grund, im Kleinen wie im Großen näher zusammenzurücken! Stattdessen gilt „social distancing“ als Gebot der Stunde.

Der allgegenwärtige Mund- und Nasenschutz sowie penible Hygienekonzepte sind Ausdruck verantwortungsvollen zwischenmenschlichen Handelns – oder aber auch, im Falle ihrer Missachtung, ihres unmittelbaren Gegenteils. Vor allem letzteres wurde und wird jedoch im zu Ende gehenden Jahr artikuliert und in einem Ausmaß öffentlich zur Schau getragen, wie wohl seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr.

Es wird gar mit pseudotheoretischem Anspruch versehen „quergedacht“ und dies mit höheren Weihen systemkritischer Opposition drapiert, sodass man sich ernsthaft Sorgen um die Befindlichkeit unseres Gemeinwesens auch mit dem Blick auf 2021 machen muss. Es sind eben keine Petitessen, wenn sich junge Frauen auf öffentlichen Bühnen in ihrer vermeintlichen Widerständigkeit gegen den „Mainstream“ und die „Lügenpresse“ mit Anne Frank und Sophie Scholl vergleichen.

Zwar ernteten sie auch von prominenter Seite heftigsten Gegenwind. Der durchaus gefährliche ahistorische Relativismus indes sitzt tiefer und hat die gemeinen Biertischrunden bereits seit längerem erreicht! Jene sprichwörtliche Kneipenmöblierung ist der willkommene Resonanzboden der grassierenden Verschwörungstheorien, die selbst so originär nicht sind, wie sie sich gerne geben, jedoch offenbar ähnlich der Coronavirus-Verbreitung selbst bereits epidemischen Charakter tragen und – so ist zu befürchten – uns auch 2021 begleiten werden.

„Der säkularisierte Satan“ überschreibt Michael Mertes sehr trefflich einen kürzlich erschienenen Aufsatz zum Verschwörungsdenken. Sein Wuchern sieht er als alarmierendes Symptom eines spürbar auseinanderdriftenden Gemeinwesens an: „Der Commonsense lebt davon, dass es in einer Gesellschaft stillschweigende Übereinkünfte gibt, auf deren Verlässlichkeit alle – oder doch die meisten – spontan vertrauen.

Daher taugt das Ausmaß der Verbreitung von Verschwörungstheorien als Gradmesser für das Maß an Misstrauen, das in einem Land herrscht. Somit ist es auch ein Gradmesser für das Maß an gesellschaftlicher Polarisierung, denn ein in unversöhnliche Lager gespaltenes Land wird von der Pandemie eines allgemeinen Vertrauensverlustes erfasst.“ (Stimmen der Zeit · 11/2020)

Was bleibt vor diesem Hintergrund an Wünschen und Hoffnungen für 2021 für einen Rentner in spe? Zum einen, dass der Übergang in den neuen Lebensabschnitt zum persönlichen Wohl und dem derer, die durch familiäre und andere Bande am engsten mit ihm verbunden sind, gelingen möge. Zum anderen aber auch der Wunsch und die Hoffnung, dass die pandemiebedingt offenbarer ins Auge fallenden Schwach- und Baustellen unseres Gemeinwesens der kritischen Prüfung unterzogen werden. Und nicht zuletzt, dass jene Debatten tiefgründig, zivilisiert und nachhaltig geführt werden!

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