Geschätzt 70.000 Menschen trotzten heute vor genau 32 Jahren ihrer Angst und zogen um den Leipziger Ring. Damit brachten sie ihren Unmut über Willkür und Missstände in der DDR zum Ausdruck. Die Ereignisse vom 9. Oktober 1989, denen der Mauerfall vier Wochen später folgte, wurden zu entscheidenden Katalysatoren des DDR-Untergangs. In Leipzig wird dem 9. Oktober 1989 heute mit dem alljährlichen Lichtfest gedacht. Die LZ ist dabei und begleitet ab ca. 19 Uhr den Abend im Liveticker.

Im Sommer und Frühherbst 1989 spitzte sich die angestaute Krise in der DDR immer mehr zu. Kaum noch ein Mensch wollte den Versprechungen seitens der SED-Führung trauen, das Regime hatte seine Legitimationsmöglichkeiten schlicht aufgezehrt. Misswirtschaft, Warenmangel, Tristesse, allgemeiner Verfall, Umweltverschmutzung, Willkür – kaum ein Mensch hatte am Ende keinen Grund, das System innerlich längst beerdigt zu haben.Mit dem alljährlichen Lichtfest gedenkt Leipzig ab dem späten Nachmittag des Geschehens von damals. Um 17 Uhr geht es in der Nikolaikirche mit dem traditionellen Friedensgebet los. Dort, am zentralen Ausgangsort des Demonstrationszuges vom 9. Oktober 1989, wird Vitali Klitschko ab 18:15 Uhr die „Rede zur Demokratie“ halten. Der 50-Jährige ist als ehemaliger Profiboxer bekannt und seit 2014 Oberbürgermeister der ukrainischen Hauptstadt Kiew.

Zweiter Jahrestag des Halle-Attentats + Demos

Zugleich markiert der 9. Oktober auch den Jahrestag des rechtsterroristischen Anschlags von Halle. Vor zwei Jahren hatte ein damals 27-Jähriger an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, schwerbewaffnet in die Synagoge der Saalestadt einzudringen versucht, um dort einen Massenmord an den Gläubigen zu verüben.

Der Plan schlug fehl, weil die verriegelte Eingangstür seinen Schüssen standhielt. Stattdessen erschoss der Rechtsextremist kaltblütig die 40-jährige Passantin Jana L. sowie den 20-jährigen Lehrling Kevin S., der in einem Dönerimbiss Mittagspause machen wollte. Der Täter wurde gefasst und am 21. Dezember 2020 zu lebenslanger Haft mit besonderer Schwere der Schuld und anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt.

Obgleich der Mörder vom 9. Oktober 2019 womöglich nie wieder freikommen wird, bleiben Antisemitismus, Hass und Hetze weiterhin präsent, die Zahl an Rechtsextremisten in Sachsen ist laut jüngstem Verfassungsschutzbericht weiter gestiegen.

Zwei Jahre nach dem rassistischen und antisemitischen Anschlag wird heute in Halle an die Opfer erinnert. Zugleich hält dort der Rechtsextremist Sven Liebich eine Demo ab, wogegen sich Widerstand formiert.

2021 mit neuem Konzept in Leipzig

Erstmals präsentiert sich Leipzig im Jahr 2021 mit einem neuen Konzept zum Lichtfest. Dieses findet diesmal über mehrere Orte verteilt statt und nicht allein auf dem Augustusplatz. Lichtinstallationen werden zwischen 19 und 23 Uhr zusätzlich am Burgplatz und am Richard-Wagner-Platz zu bestaunen sein.

18:40 Uhr: Erste Eindrücke am Augustusplatz

Unsere Kollegin ist am Augustusplatz. Dort bekommen die Menschen weiße Schilder, auf die dann der Originalmarsch projiziert werden soll. Zugleich nutzen auch andere Gruppen den Abend, um auf sich aufmerksam zu machen – unter anderem jene, die an eine vermeintliche Corona-Diktatur glauben, sowie Kritiker der türkischen Regierungspolitik, die eine Freilassung des türkischen Unternehmers Osman Kavala fordern.

18:55: Klitschko-Rede zur Demokratie läuft

Unterdessen hält Vitali Klitschko seine angekündigte Rede zur Demokratie in der Nikolaikirche (später in voller Länge zum Nachhören).

19:20 Uhr: Prominenz in der Nikolaikirche

In der Nikolaikirche waren unter anderem Vitali Klitschko und Leipzigs OBM Burkhard Jung anwesend, dazu weitere bekannte Politikerinnen und Politiker.

19:49 Uhr: Eindrücke vom Burgplatz + Video

Hier wurde eine beleuchtete Rotunde gezeigt, die den Besucherinnen und Besuchern nach Angaben des Veranstalters verschiedene Perspektiven aufzeigen will: Stehe ich nun drinnen oder draußen?

19:55 Uhr: Die Menschen bauen ihr Lichtermeer

Auf dem Marktplatz im Zentrum versammeln sich die Menschen – und machen kurzerhand ihr eigenes Lichtermeer zur stillen Erinnerung an den Herbst 1989 in der DDR.

20:15 Uhr: 89 Stimmen am Richard-Wagner-Platz + Video

Am Richard-Wagner-Platz werden die Menschen mit dem „Lichtlabyrinth” aus Text begrüßt, das erst durch ihre Anwesenheit sichtbar wird. Ganz nach dem Motto „Wäre niemand gekommen, so wäre nichts passiert” greift dieser Teil des Lichtfestes den Mut derjenigen auf, die heute vor 32 Jahren auf die Straße gingen. Je mehr Personen da sind, desto mehr Botschaften sind auch zu sehen. Diese stammen übrigens von Frauen, die 1989 an der Friedlichen Revolution in der DDR beteiligt waren. Dort haben sich auch Leipzigs OBM Jung sowie Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer eingefunden.

20:25 Uhr: Video vom Abend auf dem Augustusplatz

20:40 Uhr: Statements von Sachsens MP Kretschmer und Leipzigs OBM Jung zum Lichtfest

20:50 Uhr: Unbedeutende mit Gegenwind + Video

So ganz besinnlich und störungsfrei lief es dann doch nicht. Volker Beiser, Führungsfigur der „Bürgerbewegung Leipzig 2021“, ließ es sich nicht nehmen, mit seiner überschaubaren Anhängerschaft auch das heutige Datum für eigene Zwecke zu nutzen. Die Frage, warum sich der kleine Trupp im heutigen Land so unwohl fühlt, das sich durch vielfältige Presselandschaft, Freiheitsrechte und unabhängige Gerichte doch ein wenig von der DDR unterscheidet, blieb freilich weiterhin ungeklärt.

Deutlich dagegen wurde, dass viele der Umstehenden so gar nichts von einer plumpen Instrumentalisierung des heutigen Datums hielten. „Der soll mal lieber für meine Rente arbeiten“, so der deutliche Kommentar eines älteren Herren in Richtung Volker und dessen „Volk“.

21:00 Uhr: Fröhliche Stimmung und sehr viele Menschen unterwegs

Unsere beiden Kollegen, die noch unterwegs sind, berichten von einer tollen Grundstimmung. Die Atmosphäre ist gelöst und entspannt, die ganze Stadt noch gut gefüllt, überall laufen Menschen mit Kerzen in der Hand. Streckenweise ist das Durchkommen schwer. „Man kommt super ins Gespräch mit den Menschen, es ist so ein Klassentreffen-Feeling“, beschreibt es unsere Reporterin. Dazu sind immer wieder Fetzen von Englisch oder auch anderen Sprachen vernehmbar.

21:50 Uhr: komplette Rede Vitali Klitschkos am Abend in der Nikolaikirche zum Nachhören und -sehen

22:00 Uhr: Wir verabschieden uns

Offiziell gehen die Feierlichkeiten zum Lichtfest noch bis 23 Uhr und dürften daher in der nun angebrochenen Stunde langsam ausklingen. Für uns bleibt insgesamt der Eindruck eines fröhlichen und trotz kleinerer Verbalgefechte am Rande – siehe oben – friedlichen Abends, der so gesehen dem Geist der Revolution von 1989 gerecht geworden ist. Vergessen wir nie, wie damals ein Unrechtsregime verdientermaßen gestürzt wurde und die Rote Karte gezeigt bekam. Wir verabschieden uns von Ihnen, liebe Leserinnen und Leser – bis zum nächsten Mal und kommen Sie gut durch die Nacht. Ihre Leipziger Zeitung

Aufzeichnung des Streams ab ca. 19 Uhr

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