Ich träume leider, umso älter ich werde, immer seltener. Träume sind so weit entfernt, sie sind Spielereien, unrealistisch, Zeitverschwendung – Träumen „kostet“ Zeit, Zeit ist Geld – und Geld hamm’er nicht, haben wir Ossis mittlerweile auch gelernt.

Im politischen Raum werden meine Träume, wenn ich sie formuliere, als „illusorisch“ abgetan. Wenn dieses Wort gefallen ist, dann brauche ich eigentlich gar nicht mehr weiterdiskutieren, denn dann verschwende ich scheinbar nicht nur meine Zeit, sondern auch die Zeit jener, die mir anstandshalber zuhören (müssen). Ich formuliere meine Träume deshalb immer seltener, wahrscheinlich träume ich auch immer seltener.

Realpolitik – also der tägliche Kampf für Verbesserungen – ist, wenn man so will, das Gegenteil vom Träumen. Das Beste herausholen unter widrigen Bedingungen, den kleinsten gemeinsamen Nenner finden. Eigentlich ist das gar kein Nenner, jedenfalls ist er oft nicht nennenswert. Und dafür muss ich mich auch noch mit Leuten gutstellen, mit denen ich eigentlich nichts gemein habe, die gegenteilige Ziele haben. Ich glaube, dass diese Leute noch weniger Träume haben als ich.

Wenn ich mein Handy aber ausmache und drei Gläser Grauburgunder trinke, allein oder mit meinen Freund/-innen in der Kneipe, dann kommen sie langsam wieder, die Träume.
Dann träume ich davon, dass den Professor/-innen in der Universität die Macht entzogen wird.

Sie haben heute in fast allen Gremien per Gesetz die absolute Mehrheit der Stimmen. Professor/-innen in der Hochschulpolitik sind aber nicht der Nabel der Welt, nicht alle schauen weit in die Zukunft, nur wenige lassen sich vom besseren Argument überzeugen, kaum welche gehen vorsichtig mit ihrer faktischen Allmacht um. Sie müssen sich nicht rechtfertigen. Ich träume davon, die Professor/-innen gemeinsam mit meinen Dozierenden überstimmen zu können, denn ihnen vertraue ich viel mehr. Ich glaube, das täte uns allen gut, auch den Professor/-innen. Erst dann wird es möglich sein, zukunftsweisende Entwicklungen voranzubringen.

Zeitung
Die letzte LZ des Jahres 2021, Nr. 97 Titelblatt. Foto: Screen LZ

Ich träume davon, dass sich die Universitäten in erster Linie auf die Ausbildung junger Menschen und auf die Entwicklung gesellschaftlichen Fortschritts konzentrieren.
Das Hochschulsystem heute hat mit diesen Zielen wenig gemein. Anerkannt ist, wer gute Kennzahlen und Scores vorweisen kann. Eine gute Forscherin und Dozentin ist heute nicht, wer sich den Studierenden hingibt und an sinnbringenden Dingen forscht, sondern wer möglichst viele Gelder aus der Wirtschaft (sprich großen Konzernen) „einwirbt“.

Unsere Dozierenden in den Seminaren, die sich auf die Lehre konzentrieren, sind ausgebrannt. Sie sind oft nur halbtags angestellt, doch jeder weiß, dass sie trotzdem ganztags arbeiten müssen, um ihren Ansprüchen an eine gute Lehre nur annähernd gerecht werden zu können.
Ich träume davon, dass wir alle jung bleiben

Kindern traut man das Träumen aus gutem Grund viel mehr zu als Erwachsenen. Kinder denken nicht in Kategorien wie Nützlichkeit und Verwertbarkeit. Kinder weinen, wenn es ihnen schlecht geht. Kinder ertragen keine sinnlosen Anstrengungen im Glauben an eine bessere Zukunft – die sowieso nicht kommt. Kinder wollen das gute Leben nicht irgendwann, sondern jetzt. Kleine Kinder kennen die kapitalistische Zurichtung noch nicht. Kinder optimieren sich nicht. Kinder träumen umso mehr, je weniger sie mit ihrer kalten Umwelt konfrontiert werden.

Aber es scheint mir immer weniger Kinder zu geben, denn sie werden immer früher in die Erwachsenenwelt gedrängt. Durch die Corona-Pandemie mussten sie viel zu „vernünftig“ sein. Eigentlich müssen alle immer viel zu vernünftig sein. Wir sollten uns dagegen wehren. Gegen das Verlernen des Träumens, gegen die Bewertung all unserer Schritte nach Verwertbarkeit und scheinbarer Nützlichkeit, gegen die Tristesse und gegen das Aufgeben.

Mehr aktuelle Träume auf L-IZ.de, in der Coronakrise 2021 und aus den letzten Jahren

„Wenn Leipziger/-innen träumen: Eine Hochschule der kleinen Leute“ erschien erstmals am 17. Dezember 2021 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 97 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

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