„Solange du deine Beine unter meinen Tisch steckst, machst du gefälligst, was ich sage!“ Die meisten haben diesen Satz von ihren Eltern gehört. Einige unter uns werden ihn selbst auch ausgesprochen haben. Wahrscheinlich geschah das in einem Gemütszustand zwischen Resignation, Wut und Unverständnis über die eigenen Senker. Und nach dem Beine-unterm-Tisch-Satz kam dann meistens bald der von den „Lehrjahren“, die angeblich keine „Herrenjahre“ seien oder der Klassiker schlechthin: „Was glaubst du, was du bist?!“

Seit Bundespräsident Steinmeier die Idee für einen sozialen Pflichtdienst äußerte, kommt zumindest mir die Erinnerungen an Situationen, in den ich mir solche Sprüche anhören musste, wieder öfter. Übrigens – danke für nichts, Herr Präsident.

Steinmeier steht mit seinem Vorschlag ja in einer längeren Tradition, die von linker und konservativer Seite gleichermaßen bedient wurde. Immer wieder fanden sich da Damen, aber meistens Herren, die der Meinung waren, dass die Jugend endlich mal die Hosen strammziehen und etwas für die „Allgemeinheit“ tun solle. Überhaupt, was ist schon ein Jahr? Eigentlich doch gar nix!

In überwältigender Mehrzahl handelte es sich bei den Leuten, die diese Forderung aufs Tapet brachten, um Angehörige der gut situierten Schichten. In mindestens ebenso überwältigender Mehrzahl erhofften sich jene Menschen, die diese Forderung in irgendwelche Mikrophone oder Kameras äußerten, damit ein gewisses Wählerklientel von sich zu überzeugen.

Das waren jene – mittlerweile durchaus halb aufgeklärten und vierteltoleranten – Spießerschichten, die dir bei Familienfeiern gern mal bei Thüringer Bratwurst und Bierchen erklärten, wie hart sie sich ihr Eigenheim samt Mercedes Benz (respektive Audi, BMW, Skoda, VW) zu erkämpfen hatten.

Dieser Kolumnist jedenfalls spürte hinter jenen Sprüchen stets eine tiefsitzende Abneigung und Furcht vor allem, was sich an beruflicher Tätigkeit mit Fabrik, Großraumbüro oder Amt verbinden ließ. Was er außerdem ahnte, war ein gewisser Vergeltungsdrang.

„Man“, hieß es stets bei jenen (zumeist) Herren, „man“ war schließlich mal bei der Fahne oder im Krankenhaus gewesen, wobei „man“ bei der einen Institution bäuchlings durch Waldwege robbte oder bei der anderen angeblich „fremde Ärsche abzuwischen“ gehabt hatte. (Was beides durchaus nur bedingt erstrebenswerte Tätigkeiten darstellten, wie der Kolumnist aus persönlicher Erfahrung gern bestätigt.)

Die älteren Generationen wechselten gezwungenermaßen Bettpfannen oder lernten, mit einem Sturmgewehr auf Pappkameraden zu schießen, aber die Jugend von heute kann besser mit Smartphones umgehen als Putin Ukraine buchstabieren kann und muss kein einziges ihrer Jahre an den „Dienst an die Allgemeinheit“ verschwenden.

Wie unfair, denkt sich da Onkel Horst aus Braunsbedra, Plauen oder Delitzsch. Seltsamerweise bläst Cousin Kevin, mit dem Linksdrall und der veganen Biomacke, da gern mal ins sehr ähnliche Horn. Wenn auch aus anderen Gründen.

Geht es Onkel Horst um seinen sehr persönlichen Neid und Sinn für Fairness, so betont Cousin Kevin, der inzwischen auch Anfang dreißig ist und zwei Kinder hat, dass er ein soziales Pflichtjahr ganz geil fände, weil es garantiere, dass junge Leute aus ganz verschiedenen sozialen Schichten, auch der Oberklasse nämlich (!), mal andere (zumeist nicht rundum instagramable) Seiten des Alltags kennenlernten. Und dass diese Erfahrung für mehr gegenseitiges Verständnis und damit letztlich für mehr sozialen Zusammenhalt unter den Germanen bundesrepublikanischer Prägung führen müsse.

Onkel Horsts Trotz und Kevins Sozialzusammenhaltsbesorgnisanfälle übersehen einige Fakten. Keiner von beiden redet nämlich über Geld. Der Herr Bundespräsident tat das übrigens auch nicht bei seinem öffentlich zelebrierten Brainstorminganfall. Wie viel gibt’s denn so im Monat für die Leute, die sich vor dem Einstieg ins harte Berufsleben oder immer teurer gewordene Studium ein Jahr lang in überwiegend nicht ganz karrierefördernden Jobs krümmen?

Das LZ Titelblatt vom Monat Juni 2022. VÖ. 24.06.2022. Foto: LZ

Nehmen wir an, ich sei 18 und mein Name ist Mahmut oder Lara und meine Eltern malochen an der Aldi-Kasse oder in einem Baujob, beide sind, was man landläufig so eher als bildungsfern bezeichnen würde, weil die auch nie Zeit dafür hatten, sich um ihre Bildung zu kümmern, während sie mit Unter-Mindestlohnjobs ihre Kinder großzuziehen hatten.

Ich in meiner Rolle als Mahmud würde Farbbeutel auf die Leute in Anzügen und Kleidern werfen, die von mir verlangen, ein Jahr lang in einem beschissenen Job für sehr wahrscheinlich beschissene Alibientlohnung zu rackern, während neben mir Vanessa-Marie, Professorentochter, ihren temporären heldinnenhaften Einsatz gegen den Pflegenotstand mit Insta-Pics selfpromotet.

Und ich würde mich sicher nur sehr zärtlich und wehleidig an die Zeit im Pflegeheim neben Vanessa-Marie erinnern, während ich in der Burgerbude Paddies wende und mir klar wird, dass das ungefähr das Jobniveau bleiben wird, auf dem ich in dieser Berliner Republik als geeignet gelte.

Dabei gibt es ja durchaus ein paar Dinge, die auch Steinmeier für die Jugend in diesem Lande tun könnte, um den Start ins Leben zu erleichtern. Zum Beispiel könnte man für ein flächendeckendes Netz sorgen, das schneller läuft als 3 Kilobyte pro Sekunde oder für eine bessere und zeitgemäße Ausstattung von Schulen und Bildungseinrichtungen, man könnte auch die Studiengebühren abschaffen.

In einem – ironischerweise genau in Onkel Horsts Jugend entstandenen – Hollywoodklassiker namens „Guess Who’s Coming to Dinner?“ mit Spencer Tracy, Katharine Hepburn und Sidney Poitier, spielt Poitier einen jungen schwarzen Mann aus der Arbeiterklasse, der in eine liberale Richterfamilie einheiraten will. Was sowohl den Vater der Braut wie Poitiers eigenen Vater – nicht nur aus Gründen der Hautfarbe – ängstigt.

In einem Streit zwischen dem jungen Mann und dessen Vater wirft der ihm vor, sich selbst und seine Braut unglücklich zu machen, wenn er in eine Welt eintritt, die ihm völlig fremd sei und die Ehe überfordern müsse. Irgendwann wird Poitier dabei seinem Vater gegenüber sehr deutlich und sagt ihm, dass er niemals darum gebeten habe, zur Welt gebracht zu werden und seinen Eltern gar nichts schulde, die ihm aber alles, weil sie sich eben entschlossen hätten, ein Kind in die Welt zu setzen.

Genauso wie er später seinen Kindern gegenüber verpflichtet sei, alles für deren Wohlergehen und Glück tun zu müssen. Weder der Vater des jungen Mannes noch der der Braut sind zunächst happy über diese Argumentationslinie.

Dabei ist die aber nur folgerichtig. Und ich warte gespannt auf den Tag, an dem irgendein junger Erwachsener Steinmeier vorwirft, zu lange die Beine unter seinen Tisch gesteckt zu haben, um noch ein Recht darauf haben zu dürfen, ihn dienstverpflichten zu dürfen, um den Pflegenotstand zu dämpfen oder die personalklamme Müllabfuhr zu unterstützen. Schließlich waren es nicht die heutigen Kids, die das Klima abgefuckt oder die Welt Diktatoren und gefährlichen Populisten ausgeliefert haben.

„Ideenschrottwichteln vorm Sommerloch: Eine Kolumne über den sozialen Pflichtdienst“ erschien erstmals am 24. Juni 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 103 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

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