Vielleicht ist es das letzte große Aufbäumen, bevor Lützerath stirbt: Während sich nahe dem Ort in Nordrhein-Westfalen einige tausend, vielleicht sogar einige zehntausend Menschen an einer Demonstration beteiligen, gehen in Leipzig mehr als 2.000 Personen auf die Straße. Vielen scheint klar, dass Lützerath nicht mehr zu retten ist. Anwesende werfen in zahlreichen Redebeiträgen einen Blick in die Zukunft der Klimabewegung – und rechnen mit den Grünen ab.

Als sich die Teilnehmer/-innen gegen 14 Uhr auf dem Willy-Brandt-Platz versammeln, sieht es zunächst so aus, als wären es „nur“ einige hundert. Die Redebeiträge folgen – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – einer gewissen Dramaturgie.

Grüne haben Hoffnungen enttäuscht

Zunächst gibt es Kritik: vor allem an den Grünen. Als Kind habe sie gedacht, dass diese Partei die Welt retten würde, sagt eine Person von „Leipzig Goes Lützerath“. Jetzt herrsche jedoch Enttäuschung. „Die sogenannte grüne Regierung unterstützt Polizeigewalt. Nicht Klimaschutz, sondern Konzerninteressen stehen an oberster Stelle.“ Jemand von „Health for Future“ ergänzt: „Die heutigen Entscheidungsträger waren mal unsere Hoffnungsträger.“

Anlass für diese Kritik ist die laufende Räumung des Ortes Lützerath, die von den Grünen mitbeschlossen wurde. Sie argumentieren damit, dass dadurch der Kohleausstieg in Nordrhein-Westfalen auf 2030 vorgezogen werden konnte. Bei der Auftaktkundgebung sagt später ein Anarchist, dass man nicht ein Stück vom Kuchen, sondern die gesamte Bäckerei wolle. Heißt übersetzt: Beim Klimaschutz darf es keine Kompromisse geben.

Überhaupt ist es eine erstaunliche Mischung. Erst reden ein Kinderarzt und eine Bewohnerin des vor Vernichtung bewahrten Dorfes Pödelwitz, später Menschen, die in linksradikalen Gruppen wie „Rojava-Solibündnis“ und „Ende Gelände“ organisiert sind.

Dort bleibt es dann auch inhaltlich nicht mehr bei Kritik am Bestehenden, sondern es gibt konkrete Lösungsansätze: Pödelwitz soll nach sozialen und ökologischen Kriterien neu gestaltet werden, ohne Einmischung des Braunkohle-Unternehmens Mibrag. Viele wünschen sich eine neue Gesellschaftsordnung, wobei einige „nur“ den Kapitalismus abschaffen wollen und andere gleich das komplette System aus Grenzen und Nationalstaaten.

Die Person aus dem Rojava-Bündnis schließt ihren Redebeitrag mit einem Solidaritätsausruf für die in Deutschland verbotene Kurdenpartei PKK, und nach Berichten über Polizeigewalt in Lützerath hört man von einem gar nicht so kleinen Teil der Kundgebung die Parole: „Hass wie noch nie, All Cops Are Targets, ACAT“. Ob die Mehrheit der Anwesenden das ähnlich sieht, bleibt unklar. Einig ist man sich bei „Klimaschutz ist kein Verbrechen“.

Schon vor einigen Jahren haben die sogenannten Verfassungsschützer/-innen davor gewarnt, dass angebliche „Linksextremisten“ die Klimaproteste „kapern“ könnten. Tatsächlich ist das eingetreten. Ob das nun eine bedenkliche Entwicklung darstellt oder ob es notwendig ist, dass immer größere Teile der Bevölkerung radikale Maßnahmen zur Abwehr der Klimakatastrophe begrüßen, mag jede/-r selbst entscheiden.

Als sich die Demonstration nach etwa einer Stunde in Bewegung setzt, wird klar, dass weit mehr als einige hundert Menschen gekommen sind. Laut einer Teilnehmenden-Zählung der LZ dürften es zwischen 2.000 und 2.500 Personen sein. Klassische Klimagruppen laufen direkt vor einem anarchistischen Block mit 100 Leuten, und ganz vorne bietet eine Gruppe musikalische Begleitung für Parolen wie „Von Lützerath bis Rojava – Klimaschutz heißt Antifa“.

Polizei stürmt auf Demonstrierende los

Einige hundert Kilometer weiter westlich sind noch deutlich mehr Klimaaktivist/-innen auf den Beinen. Die Polizei spricht von bis zu 10.000 Menschen, die Veranstalter/-innen nennen eine Zahl von 35.000, die nahe Lützerath demonstriert.

Die dabei insbesondere von der Polizei produzierten Bilder dürften um die Welt gehen und noch viele Jahre in Erinnerung bleiben: Mit teils martialischem Geschrei stürmen sie auf Menschen los, die für Klimaschutz demonstrieren. Laut Polizei musste unter anderem verhindert werden, dass diese nach Lützerath durchbrechen. In den sozialen Medien ist von teils schweren Verletzungen bei Betroffenen der Polizeimaßnahmen die Rede.

Der Kampf um Lützerath scheint für die Klimaaktivist/-innen verloren, aber den Kampf um Bilder und Symbole dürften sie haushoch gewonnen haben. Und geht es nach „Ende Gelände“, ist damit noch lange nicht Schluss. Pressesprecherin Sina Reisch rief heute in Leipzig dazu auf, in der kommenden Woche den Tagebau Garzweiler zu besetzen. Es ist jener Tagebau, dem Lützerath weichen soll.

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