Vor mir steht eine kleine, aus Speckstein gefertigte Plastik: ein Kreuzträger mit ängstlich-erwartungsvollem Blick vor dem offenen Maul eines Drachen. Martin Petzold, nicht nur ein begnadeter Sänger, sondern auch ein ideenreicher Gestalter, hat sie gemacht und meiner Frau wenige Wochen vor ihrem Tod geschenkt. Auf dem kleinen Sockel hat er die 3. Strophe des Chorals „Jesu, meine Freude“ mit filigraner Handschrift geschrieben:

Trotz dem alten Drachen, / Trotz dem Todesrachen, / Trotz der Furcht dazu! / Tobe, Welt, und springe; / ich steh hier und singe / in gar sichrer Ruh. / Gottes Macht hält mich in Acht, / Erd und Abgrund muss verstummen, / ob sie noch so brummen.

Gestern, am frühen Morgen des 19. April 2023, ist Martin Petzold im Alter von 67 Jahren in München seinem schweren Krebsleiden erlegen – und das, obwohl er dem Drachen Krebs fünf Monate widerstanden hat. Unzählige Male hat Martin Petzold „Trotz dem alten Drachen“ gesungen – als Thomaner, als Stimmbildner im Chor, als treuester Christenmensch im Gottesdienst.

Und wie oft sah sich Martin Petzold in seinem Leben dem offenen „Todesrachen“ des „alten Drachen“ und der „Furcht“ hilflos ausgeliefert – in der Zeit der ideologischen Übergriffigkeiten des SED-Regimes, anlässlich des tragischen Todes seines Sohns Jakob, der im Sommer 1998 bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, und jetzt die tückische Krankheit zum Tode. Sie brach im November des vergangenen Jahres aus.

Von Anfang an versuchte Martin Petzold ihr zu trotzen – wohlwissend, dass seine Lebensaussichten sehr, sehr begrenzt waren. Aber noch am Ostermorgen verschickte er aus der Klinik ein Foto von sich mit einem kleinen Plakat „Trotz alledem – frohe Ostern“, das „f“ natürlich in Form eines Notenschlüssels geschrieben.

Martin Petzold hat in den vergangenen Jahrzehnten wie kaum ein anderer Sänger die Musik in der Thomaskirche geprägt. Dem gleichen Jahrgang wie Alt-Thomaskantor Georg Christoph Biller (1955-2022) angehörend, war er von 1965 bis 1974 Mitglied im Thomanerchor, in der 2. Generation. Denn sein Vater war auch Thomasser. Wie sehr hat er sich gewünscht, dass es auch in der 3. Generation einen Petzold-Thomasser gibt.

Aber sein Sohn Jakob wurde schon als 12-jähriger Thomaner jäh aus dem Leben gerissen. Martin Petzold hat in schweren Zeiten immer wieder Halt in den Texten gefunden, die er gesungen hat. Wenn er als Evangelist im Weihnachtsoratorium oder in den Passionen von Johann Sebastian Bach auftrat, dann war er tatsächlich Evangelist, Verkünder der Guten Nachricht von Jesus Christus. Martin Petzold sang nicht die Noten, er sang den Text, rang um das Verständnis, stellte sich in den Dienst der biblischen Botschaft.

So war für ihn die Thomaskirche nicht nur die Heimstatt des Thomanerchors und Wirkungsstätte von Johann Sebastian Bach; sie wurde für ihn auch zur geistigen und geistlichen Heimat.

Nach seiner aktiven Zeit als Thomasser war ihm zunächst das Musikstudium verwehrt, weil er aus Glaubensüberzeugung den Dienst an der Waffe verweigern wollte. Er begann am Theologischen Seminar in Leipzig mit dem Studium der Theologie, absolvierte aber dann erst einmal eine Lehre in der Bauschlosserei Stock. Auf Umwegen konnte er dann doch mit dem Gesangsstudium an der Musikhochschule Felix Mendelssohn Bartholdy beginnen. Nach erfolgreichem Abschluss des Studiums war Martin Petzold als Opernsänger engagiert.

Seit 1988 gehörte er zum Ensemble der Leipziger Oper. 2001 wurde er zum Kammersänger ernannt. Doch sein Schwerpunkt war das Singen der Tenor-Arien und Rezitative in den Kantaten, Oratorien und Passionen von Johann Sebastian Bach. Da war Martin Petzold ganz bei sich und bei den Menschen. Ihnen wollte er über die Musik die Grundanliegen der biblischen Botschaft vermitteln. Die tiefe Freundschaft zu Georg Christoph Biller führte dazu, dass er sehr oft in der Thomaskirche auftrat.

Weit über das Singen hinaus stand Martin Petzold Thomaskantor Biller in allen Lebenslagen bei. Er ließ ihn nie fallen – bis zuletzt, als er ihn im Januar 2022 singend und betend im Sterben begleitete.

Martin Petzold war ein vielseitiger Sänger. In der Oper konnte er immer wieder seine komödiantische Begabung unter Beweis stellen. Ihm war es ein Herzensanliegen, dass die Volkslieder nicht in der Versenkung verschwinden. Er hatte keinerlei Berührungsängste mit dem Jazz und brachte so Bachkantaten zu einem neuen Klangerlebnis. Als Stimmbildner im Thomanerchor gab er an Generationen von Thomassern nicht nur sein sängerisches Können weiter. Er stand vielen Thomassern in allen Lebenslagen bei.

Seit 2002 war Martin Petzold in 2. Ehe mit Angela Petzold verheiratet. Er lebte bis zu seinem Umzug nach München im Pfarrhaus der Gundorfer Kirche. Dort bereicherte er durch seinen Gesang die Gottesdienste. Uneigennützig und engagiert ermöglichte er der kleinen Kirchgemeinde viele Konzerte in der Gundorfer Dorfkirche und erwies sich damit für den Stadtteil am Rande Leipzigs im besten Sinn als Glaubensbote und Kulturschaffender.

Bewundernswert war, wie Martin Petzold im vergangenen Jahr ganz bewusst seine sängerische Karriere beendete und gleichzeitig ein altes Hobby belebte. Er betätigte sich nun als Illustrator und Karikaturist. In den letzten Ausgaben des Gewandhausmagazins konnte man die köstlichen Zeichnungen bewundern. Im Juli 2022 sang er zum letzten Mal in einer Motette in der Thomaskirche unter Thomaskantor Andreas Reize.

Dass dieser zum Thomaskantor gewählt wurde, war Martin Petzold ein Herzensanliegen. Denn er erkannte sehr schnell, dass Reize der richtige Mann für den Thomanerchor ist. So war er, schon den eigenen Tod vor Augen, bewegt und begeistert von der Aufführung der Johannespassion in der Thomaskirche in der Karwoche. „… ich bin unglaublich froh und dankbar für so eine Johannespassion, wie ich sie gestern im Krankenzimmer miterleben durfte. Was haben wir für ein Glück mit Andreas Reize. Da kann es Ostern werden“, schrieb er mir am Karsamstag – sein letzter Gruß, der mich erreichte.

Mit Martin Petzold verliert Leipzig eine bedeutende Sängerpersönlichkeit und einen Menschen, der mit seinem Witz und Humor, mit seiner Warmherzigkeit und seinem tiefen Glauben ganz viel zu einem menschenfreundlichen Miteinander beigetragen hat. Martin Petzold konnte so spontan und herzlich sein!

Wir können Gott nur für all das danken, was er uns mit Martin Petzold geschenkt hat. In dieser Dankbarkeit möge alle Trauer aufgehoben sein. Am Sterbebett von Alt-Thomaskantor Biller sang Martin Petzold:

Gott lässt keinen traurig stehn, / noch mit Schimpf zurückgehn, / der sich ihm zu eigen schenkt / und ihn in sein Herze senkt; / wer auf Gott sein Hoffnung setzt, / findet endlich und zuletzt, / was ihm Leib und Seel ergötzt.

Möge dieser Trost vor allem seine Frau und Kinder in den Stunden des Abschieds stärken und aufrichten.

Zum Blog von Christian Wolff: https://wolff-christian.de

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