Als Ostdeutscher fühlt man sich ja manchmal wie ein Insekt unter der Lupe: Mit kritischem Blick untersuchen Wissenschaftler und Journalisten, was da wohl falsch laufen mag in diesem angeklebten Stück Deutschland. Leiden die Leute da immer noch unter dem Töpfchen-Trauma? Sehnen sie sich zurück nach der Kuschelwärme der Diktatur? „Mehr als die Hälfte der Ostdeutschen ist unzufrieden mit der Demokratie“, titelte auch der „Spiegel“ am Mittwoch. Und Demokratie ist doch der Prüfstein für alles, oder?

Natürlich ist sie das. Sie ist ein Ding, das sich immer wieder neu bewähren muss. Und manchmal eben nicht bewährt, auch weil Menschen falsche Vorstellungen davon haben, wie viel Gewicht ihre Stimme hat. Und damit, wie viel Einfluss sie haben. Auch Journalisten malen oft und gern ein falsches Bild von Demokratie. Und vergessen nur zu gern auch ihre eigene Rolle dabei. Denn Demokratie lebt von Kommunikation und Vermittlung.

„Die Zufriedenheit mit der Demokratie, wie sie im Alltag funktioniert, ist der Befragung zufolge schwach ausgeprägt. Nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung finde sich in ihr wieder“, fasste die Uni Leipzig eines der Ergebnisse der jüngsten Studie des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts der Universität Leipzig zusammen, bei der im vergangenen Jahr 3.546 Menschen aus den ostdeutschen Bundesländern zu ihrer Einstellung zur Demokratie befragt wurden.

„Das korrespondiere mit der hohen politischen Deprivation: Zwei Drittel halten es für sinnlos, sich politisch zu engagieren, und kaum jemand glaubt, einen Einfluss auf die Regierung zu haben. Dazu passt, dass die Verschwörungsmentalität neben der autoritären Aggression das am weitesten verbreitete Element des autoritären Syndroms ist.“

„Wir beobachten also ein ausgeprägtes Fremdeln mit der Demokratie, sie wird von vielen nicht als etwas Eigenes verstanden“, sagte dazu der an der Studie beteiligte stellvertretende Direktor des EFBI, Dr. Johannes Kiess. Diese Werte seien seit etwa 20 Jahren konstant.

Wer ist wirklich depriviert?

Passen also die deprivierten Demokraten nicht zur Demokratie? Oder sind die Vorstellungen von Demokratie zu abgehoben? Eine Frage, die ja jedes Mal auftauchte, wenn die Mannschaft um Elmar Brähler in Leipzig neue Studien zu Mitte und Autoritarismus vorlegte. Studien, die übrigens bestätigten, dass viele autoritäre und chauvinistische Haltungen gar nichts mit Deprivation, also mit Ausgrenzung und Benachteiligung zu tun haben. Sie sind ausgerechnet da am stärksten vertreten, wo die Menschen gut verdienen, bestens arriviert sind und aus sozial gesicherter Position herabschauen auf – ja, die wirklich Deprivierten.

Der „Spiegel“ liegt also mit seiner Titelzeile „Mehr als die Hälfte der Ostdeutschen ist unzufrieden mit der Demokratie“ gehörig daneben. Und bedient auch wieder das Muster: Gut arrivierte Redakteure schauen herab auf Leute, von denen sie glauben, die hätten die Sache mit der Demokratie nach 33 Jahren immer noch nicht kapiert.

2020/2021 ließ übrigens die Stadt Leipzig auch mal die Leipziger selbst befragen und veröffentlichte 2022 dann ihren „Demokratie-Monitor“. Leipzig gilt ja so als eine Insel der Seligen im frustrierten Osten, die Leute wählen hier eher seltener AfD, sind weltoffener und liberaler.

Der Leipziger Demokratiemonitor 2020.

Aber siehe da: Auch hier gab es so ein Ergebnis: 44 Prozent der Befragten sagten, dass wir keine echte Demokratie haben, „weil die Wirtschaft und nicht die Parlamente das Sagen haben“. 50 Prozent sagten, dass sie so überhaupt keinen Einfluss darauf haben, was die Regierung tut. 66 Prozent fanden, dass sich die meisten Politiker ganz und gar nicht um einen engen Kontakt zur Bevölkerung bemühten.

Die „Politikverdrossenheit“ der Leipziger. Grafik: Stadt Leipzig, Demokratiemonitor 2020
„Politikverdrossenheit“ der Leipziger. Grafik: Stadt Leipzig, Demokratiemonitor 2020

„Die in Abbildung 12 aufgelisteten Ergebnisse dieser Dimension sind in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich. Sie zeigen, dass Politikerverdrossenheit in Leipzig weit verbreitet ist. Zwei Drittel der Befragten sehen nicht, dass sich Politikerinnen und Politiker um einen engen Kontakt zur Bevölkerung bemühen“, schrieb das Referat Demokratie und gesellschaftlicher Zusammenhalt dazu.

Erfahrung von Macht und Ohnmacht

Besonders verstörend war eine weitere Feststellung: Dass die Politikverdrossenheit bei den Jüngeren (18 bis 34 Jahre) mit 52 Prozent sogar noch etwas stärker ausgeprägt war als bei den Älteren (48 Prozent).

Und welches Bild drängt sich da auf? Junge Menschen mit Warnweste, die sich auf Straßen festkleben und dann entweder von Polizisten oder wütenden Autofahrern zur Seite gezerrt werden. Junge Leute, die gegen einen lärmenden Flughafen demonstrieren und mit Klagen vor Gericht überzogen werden. Junge Leute, die am Tagebaurändern demonstrieren und dann von den Tagesbaukonzernen mit Klagen überzogen werden.

Wer hat da die Macht?

Und wo bleibt der eigene kleine Einfluss in der Demokratie?

Demokratie ist das, was man erlebt. Es ist tatsächlich die Erfahrung von Einfluss oder Machtlosigkeit. Machtlosigkeit erlebt man auch, wenn nacheinander Schule, Kita, Gemeindeamt, Arztpraxis und Zugverbindung aus dem Dorf verschwinden. Wenn die Wege zum Landratsamt immer weiter werden und man die Leute, die über die eigenen Belange entscheiden, nicht mal mehr kennt. Auch nicht erfährt, wer sie sind, weil es auch schon lange keine Lokalzeitung mehr gibt, die darüber berichtet.

Vielleicht ist es tatsächlich so, dass nicht die Erwartungen der Forscher und Journalisten richtig sind, sondern die Feststellungen der befragten Menschen. Mal ganz zu schweigen davon, dass auch Journalisten keinen Einfluss auf die Regierung haben. Wer verbreitet nur solche Märchen?

Glauben die Leute selbst daran, die so etwas abfragen und dann mit dem Finger auf die Leute zeigen, die so etwas bejahen?

Journalisten können die Regierenden zum Interview bitten. Sie können sie kritisieren oder loben oder einfach berichten, was sie tun. Aber genauso wenig wie die einfachen Wähler können sie einfach ins Dienstzimmer des Ministerpräsidenten gehen und ihn auffordern, das zu tun, was sie für richtig halten.

Wie erzählt man Kompromisse?

Demokratie ist auch eine Erfahrung der Machtlosigkeit. Das wird auch viel zu selten erzählt. Denn Politik machen am Ende die Parteien, die Mehrheiten bekommen, egal, ob ihre Versprechungen alle falsch waren oder völlig überzogen. Auch Wähler sind gutgläubige Menschen. Und auch Ostdeutsche haben seit 33 Jahren immer auf Treu und Glauben gewählt. Denn irgendwie müssen ja die Mehrheiten zustande gekommen sein in den Parlamenten. Repräsentativ für die Erwartungen der Wähler – die dann aber meist im Regierungsalltag keine Rolle mehr spielen.

Manchmal resultiert das Gefühl der Deprivation lediglich daraus, dass Anspruch und Wirklichkeit nicht zusammenpassen. Und dass es an den bissigen und hartnäckigen Leuten fehlt, die den Wahlberechtigten dann auch zwischen den Wahlen erzählen, wie die Sache wirklich läuft. Warum Dinge nicht kommen wie versprochen oder sie in zähen Kompromissen zermahlen wurden.

Das Machbare in der Politik

Auch daran ist der Wähler schuld, auch wenn es selten einer erzählt. Politik ist nie einfach und eindeutig. Schon gar nicht, wenn Mehrheiten aus völlig unterschiedlich gestrickten Parteien zustande kommen, die sich sehr, sehr mühsam auf machbare Kompromisse einigen.

Es wird viel zu selten über das Machbare erzählt.

Und es wird auch viel zu selten über die Grenzen des Möglichen berichtet. Dazu braucht es Medien, die genau erzählen können, von allen Seiten, mit Fakten und Zahlen und Namen.

Das passiert immer seltener. Und das ist ein Problem im Osten, das auch den Westen so langsam erreicht: Dass es hier von vornherein an einer dichten Landschaft unabhängiger Lokal- und Regionalzeitungen fehlte. Was die meisten Regierenden im Osten nicht wirklich kümmerte, weil sie glaubten – und glauben –, dass kritische Berichterstattung sowieso nur stört beim Regieren.

Was passiert aber mit Demokratie, wenn über ihre tatsächliche Umsetzung nicht berichtet wird? Wenn die Leute also den von ihnen Gewählten nicht mehr beim Regieren zuschauen können?

Nur so als Frage. Denn die Antworten stecken dann mehrheitlich in diesen ganzen Umfragen, die sich so leicht auf die Formel „Politikverdrossenheit“ einigen. Das ist immer leichter als zu fragen: Kann es sein, dass die befragten Wähler recht haben mit ihrem Gefühl? Und dass dahinter eine ganz wichtige Frage steht nach der tatsächlichen Verteilung von Macht in unserem Land?

Von Macht, die oft gar nicht demokratisch legitimiert ist – und sich trotzdem durchsetzt, weil die Gesetze so sind. Oder auch Politiker einknicken, wenn Klagen und Geldforderungen im Raum stehen?

Demokratie lebt auch vom Lernen. Sie ist kein starres Gebilde.

Und manchmal sollte man vielleicht einfach zuhören. Und einfach auch einmal für möglich halten, dass die Enttäuschung an der Demokratie, wie sie von vielen erlebt wird, vielleicht gar nichts mit einer Sehnsucht nach alten Zuständen zu tun hat, dafür sehr viel mit immer neuen Enttäuschungen, wenn es wirklich darum geht, teilzuhaben an dem, was man so landläufig die res publica nennt.

Und vielleicht auch fragen, woran es fehlt und was das Gefühl immer wieder bestärkt, doch nichts machen zu können und nicht gefragt zu sein.

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