In Greifswald gibt es einen kleinen Verlag, der seit fünf Jahren ein großes Magazin herausgibt: das „Katapult Magazin“. 75.000 Mal gedruckt erscheint es vierteljährlich und ist in der kurzen Zeit so etwas geworden wie „die Geo der Sozialwissenschaft“. So preist zwar der kleine Verlag sein Produkt selber an. Aber der Erfolg gibt ihm recht. Denn das Magazin macht Dinge anschaulich, die man sonst eigentlich nicht sehen kann. Und seit September bringt Katapult auch noch eigene Bücher heraus.

Diese hier ist das erste. Oder das dritte. Denn zwei erfolgreiche Titel sind schon in anderen Verlagen erschienen: „102 grüne Karten zur Rettung der Welt“ bei Suhrkamp und „100 Karten, die deine Sicht auf die Welt verändern“ bei Hoffmann und Campe. Wobei die Titel ja schon verraten, was die Arbeit der Sozialwissenschaftler/-innen bei Katapult kennzeichnet: Dinge, die sonst in lauter gedrucktem Text, langen Zahlenkolonnen und trockenen Studien zu finden sind, verwandeln sie in Karten und Grafiken. Auf einmal wird das sichtbar, was man sich sonst mühsam aus wissenschaftlichen Texten zusammendenken muss. Wenn man sie denn überhaupt liest. Oder versteht.

Denn eine Erfahrung nach jahrzehntelangem Medienkonsum ist nun einmal: Die meisten Leute begreifen nicht einmal, was sie da sehen, wenn es ihnen in den üblichen Torten- und Balkendiagrammen gezeigt wird. Selbst dann nicht, wenn sie es im Mathematikunterricht mal gelernt haben sollten.

Wobei …

Das meiste, was in der Schule „behandelt“ wird, wird nicht gelernt. Es wird nicht zur Fähigkeit. Und so retardieren die meisten Schulabgänger meistens gleich nachdem sie ihre mehr oder weniger schlechten Leistungsergebnisse abgeliefert haben, versumpfen wieder im gelebten Nichtwissen und Nichtwissenwollen. Verlassen sich lieber wieder einfach auf Bauch, Gefühl und Bilder.

Deswegen dominieren hochemotionalisierte Bilder auch die „social media“. Und Texte bitte ganz kurz, maximal 280 Zeichen. Oder lieber nur Emojis. Das passt sowieso besser zu einer Welt, in der der steuerbare Konsument dominiert, der losrennt, wenn man sein Bauchgefühl kitzelt. Und der nicht nachdenkt. Nicht über die Folgen seines Tuns, nicht die Folgen für die Welt und die Welt schon gar nicht. Alles ist gleich.

Und überall wird deutsch gesprochen.

Oder etwa nicht?

Mit diesem ersten vom Katapult-Verlag selbst herausgebrachten Buch erfüllt sich im Grunde Tim Ehlers, der Cheflayouter von Katapult, einen Wunsch. Denn er ist selbst Sprachwissenschaftler, Vertreter jener Spezies, die in der Regel darunter leidet, dass sich die große Öffentlichkeit für ihre Forschungsergebnisse nicht die Bohne interessiert.

Dabei erzählt Sprache eine Menge. Sprache steckt voller Geschichte, verrät den Humor ihrer Sprecher, wie sie lieben und streiten, wie weltoffen sie sind und wie verdruckst. Auch die deutsche Sprache. Die aber nur eine unter vielen ist. Eine Blüte am Baum der Sprachen, die in den vergangenen Jahrtausenden gewachsen sind in vier großen Sprachfamilien. Manche relativ einfach zu erlernen, andere richtig schwer.

Aber wie zeigt man das am besten? Natürlich mit Karten, herrlich bunt eingefärbt, sodass man auf den ersten Blick schon beim Umblättern sieht, dass eben nicht alles auf der Erde überall gleich ist. Und nicht einmal in den Ländern, die im Geografie-Atlas immer so schön einfarbig ausgemalt sind. Denn selbst die Länder, die in den Nachrichten immer wieder als großer, eindeutiger Klops vorgestellt werden, gibt es oft ganze Welten von Sprachen, manche als Amtssprachen gewürdigt, manche ganz selbstverständliche Zweitsprache, manche vom Aussterben bedroht.

Und nicht nur um die Sprachen der Welt drehen sich einige dieser großen Karten, sondern auch immer wieder um den deutschen Sprachraum und die Überraschungen, die man erleben kann, wenn man nur mal ins nächste Bundesland fährt oder gar zu den Schweizern und Österreichern.

Auf einmal merkt man, dass Sprache auch Charakter hat und sehr viel darüber verrät, wie ein Volk mit den Fährnissen des Lebens umgeht, ob es darüber so griesgrämig wird wie etliche der Deutschen, die so partout nicht fertigkriegen, das Leben mit Gelassenheit anzugehen. Und was es mit der Gemütlichkeit wirklich auf sich hat, die das Deutsche ja mittlerweile in alle Welt exportiert hat, ahnt man nur, wenn man schon mal einen Deutschen hat sagen hören: „Ich werde gleich ungemütlich.“

Das Wort hat sich Tim Ehlers mal nicht vorgenommen. Andere schon. Und genauso hat er einfach mal schön grafisch ausgearbeitet, welche Worte das Deutsche aus anderen Sprachen übernommen hat. Im Vorwort erinnert er an ein paar längst verstorbene deutsche Reinheitsapostel, die schon mal sämtliche Lehnwörter aus dem Deutschen herausredigieren wollten. Zum Glück ohne Erfolg. Wir hätten die steifste und unflexibelste aller Sprachen bekommen.

Sprache lebt vom Austausch. Und wenn der andere ein neues Wort hat, das man noch nicht kennt, das aber passt wie die Faust aufs Auge, dann bürgert man es ein. Vom Tee bis zum Kaffee, vom Muckefuck bis zur Siesta. Womit man ja dann oft auch die dazugehörende Lebensart ein bisschen mit übernimmt, die hinter den Worten steckt. Was die Sprecher/-innen meist gar nicht merken. So, wie andere dann wieder etwas Deutsches übernehmen wie das Schnitzel, die Weltanschauung, Kitsch und kaputt. Worte, die wirklich nur von Deutschen erfunden werden konnten, diesen Philosophen im Schlafrock.

Einen Spaß hat der Verlag auch gleich aufs Cover gepackt: die Bedeutung all der Ländernamen rund um die Welt, die meist verraten, wie die Leute gern wären, die da wohnen. Wie sie sich manchmal auch wirklich sehen. Denn wenn ein Land schon Volksland heißt, ahnt man, wie schnell die Leute sich da selbst als „das Volk“ begreifen. Wie wenig „das Volk“ tatsächlich in „Volksländern“ zu sagen hat, kann man auf den Karten mit den Demokratien und den Volksdemokratien sehen. Sprache dient eben auch zum Verschleiern, zum Vortäuschen eines Zustandes, in dem ein paar Autokraten ihren Zuwinkern suggerieren, sie lebten jetzt in der idealsten aller Welten.

Man kommt auf erstaunliche Gedanken beim Durchblättern des Buches, in dem man die Einwanderergeschichte der USA genauso bildhaft vor Augen geführt bekommt wie die Entwicklung des Buchdrucks seit 1475, die Welt der Wikipedias (unter denen die deutsche nicht mal die größte ist), die Lust am Sprachenlernen der Europäer und die effiziente Semantik des Deutschen – etwa im Vergleich zu Japanisch und Spanisch.

Dazwischen immer wieder auch sehr lustige Grafiken etwa zum (auch mal falschen) Gebrauch des Mittelfingers, den häufigsten Familiennamen (nein, es ist nicht überall der Müller), sprechenden Tieren, Rekordreden im Parlament oder den Lieblingsbeleidigungen der Völker. Auch die Wörter des Jahres werden gewürdigt, die so erstaunlich viel über die jüngere Geschichte verraten, deftige Ortsnamen und selbst Disney-Filme, die mit genau messbaren Sprachanteilen zeigen, wie weit es mit der Emanzipation in Hollywood eigentlich heute ist.

Tatsächlich zeigt das Buch, wie sehr unser komplettes Dasein von Sprache durchdrungen ist – und wie wenig wir darüber im Alltag nachdenken. Leider auch in Liebesdingen, wo den Deutschen wirklich eine schreckliche Niedlichkeit nachgesagt werden darf – die eigentlich eine Zumutung ist. Man erfährt die Bedeutung von Währungsnamen und der Namen europäischer Hauptstädte (von denen ziemlich viele an einem Sumpf erbaut wurden).

Und selbst die Weltreise des Phileas Fogg verwandelt Ehlers in eine Karte. Manche Jugendbücher lassen einen eben nicht los, erst recht, wenn man dann anfängt, die realen Orte aus der Geschichte auch auf der Weltkarte zu suchen.

Und fehlen darf auch nicht die Karte mit den Bezeichnungen der anderen Europäer für uns Deutsche. Für einige sind wir nämlich bis heute einfach nur Alemannen und Sachsen. Und oft genug benehmen wir uns ja auch so. Regelrecht darauf bedacht, überall in der Welt die segensreichen Ableger unserer Micheligkeit zu entdecken. Das Buch zeigt auf sehr farbenfrohe Weise, dass wir nicht wirklich der Nabel der Welt sind, sondern eine kleine, manchmal etwas naive Sprachinsel in einer Welt von Sprachen.

Manchmal die Ausnahme, selten die dominierende Regel. Schon gar nicht das Maß aller Dinge. Aber auch nicht so langweilig, wie es die deutschen Sprachwärter gern gehabt hätten. Sondern eher handelsfreudig auch mit Worten aus aller Welt, die uns einfach gefallen. Und die auf solchen Karten dann ein erstaunliches Eigenleben entfalten. Oder Eigensinn, ganz deutsch, mit Worten, die oft ganze Sommerlöcher füllen mit ihrer Sperrigkeit: Politikverdrossenheit, Wutbürger, Reformstau, Abrwackprämie. Worte, die man eigentlich nicht mal im Hofschuppen übernachten lassen würde, und die dennoch die ganze Straße vollstinken, weil sie uns unsere grämliche und immerfort verbiesterte Seite zeigen. Als wenn es hier die ganze Zeit nur dunkle Wolken und fiesen Regen geben würde. Ein Völkchen ohne Spaß am Leben – ojemime. Selbst das Wort Spaß haben wir ja importiert aus Italien.

Also kein Buch für Jammerlappen. Aber eins für Leute, die noch wissen, wie schön es sein kann, über sich selbst und sein komisches Land wenigstens zu schmunzeln.

100 Karten über Sprache, Katapult-Verlag, Greifswald 2020, 22 Euro.

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