Da staunten nicht nur die Autoren des ersten Leipziger Demokratie-Monitors, der in diesem Sommer veröffentlicht wurde, sondern auch wir selbst. Denn er stellte für einen erheblichen Teil der Leipziger eine gewaltige Politikverdrossenheit fest. Verbunden mit einem geradezu seltsamen Wunsch, die Politiker sollten sich mehr um sie bemühen. Anlass genug in der aktuellen Bürgerumfrage, die Leipziger zu ihrem Wissen zur lokalen Demokratie zu befragen. Das Ergebnis ist genauso verblüffend.

Denn seit Jahren bemühen sich ja die gewählten Stadträtinnen und Stadträte, den Leipzigern immer mehr politische Teilhabe zu ermöglichen. In einer Stadt mit 600.000 Einbewohnern sollte das eigentlich leicht zu organisieren sein.

Aber schon die Erfahrungen mit Bürgerforen und Online-Beteiligungsverfahren haben gezeigt, dass diese Beteiligungsinstrumente immer nur eine kleine Gruppe von Leipzigern erreichen. Ganz so, als würde die Mehrheit echte Teilhabe überhaupt nicht interessieren, als wären sie ganz glücklich mit ihrem Gejammer, die Politiker würden sich nicht genug um sie bemühen.

Welche Wünsche haben die Leipziger in ihremStadtteil / ihrem Ortsteil? Grafik: Stadt Leipzig, Bürgerumfrage 2021
Welche Wünsche haben die Leipziger in ihrem Stadtteil / ihrem Ortsteil? Grafik: Stadt Leipzig, Bürgerumfrage 2021

Oder sie wissen es einfach nicht. Erfahren nichts davon, wo und wann und wie sie sich beteiligen können.

Was möglicherweise eine Sache der Mediennutzung ist. Denn das eine, alle Stadtbürger erreichende Medium gibt es in Leipzig nicht. Und Einladungen zur Bürgerbeteiligung tauchen auch nicht bei Facebook und Twitter als führende Meldungen auf.

Kenn’ ich nicht

Und obwohl es sie seit Jahrzehnten gibt, hat sich die Existenz von Ortschaftsräten und Stadtbezirksbeiräten noch immer nicht herumgesprochen, obwohl das die gewählten Gremien in Wohnortnähe sind, deren Sitzungen öffentlich stattfinden und die mittlerweile auch Budgets haben, mit denen sie im Ort eigene Projekte umsetzen können.

Und es ist auch kein Geheimnis, dass sie selbst ebenfalls wieder Anträge für die Ratsversammlung schreiben können, Bürgeranliegen also von ganz unten ins höchste Gremium der Stadt delegieren können.

Aber die Bilanz ist ernüchternd: „Insgesamt wissen 30 Prozent der Leipzigerinnen und Leipziger, dass es einen für ihren Ortsteil zuständigen Stadtbezirksbeirat bzw. Ortschaftsrat gibt“, kann man im Bericht zur Bürgerumfrage 2021 lesen.

Aber die Wahrheit ist: Wirklich bekannt sind vor Ort eigentlich nur die Ortschaftsräte. Dass es für die inneren Stadtbezirke richtig fleißige Stadtbezirksbeiräte gibt, interessiert die Mehrheit der dort Wohnenden nicht die Bohne. Die meisten wissen nicht einmal etwas davon.

Oder mit den Worten des Berichts: „Dies trifft insbesondere auf die Ortschaftsräte in Lützschena-Stahmeln und Hartmannsdorf-Knautnaundorf (jeweils 85 Prozent) sowie Mölkau, Baalsdorf und Burghausen-Rückmarsdorf (jeweils 82 Prozent) zu. Anders sieht es in Ortsteilen mit Stadtbezirksbeiräten aus. Hier ist der Bekanntheitsgrad des örtlichen Gremiums bei den dort lebenden Befragten deutlich geringer: Stadtbezirksbeirat Alt-West (8 Prozent) und die Stadtbezirksbeiräte Nordost (ohne Portitz) und Ost (jeweils 6 Prozent).“

Vielleicht eine Erklärung könnten die kürzeren Wege sein. Denn die Ortschaftsräte beackern ja tatsächlich die jeweils sehr überschaubaren Ortschaften, in denen sie gewählt wurden, während die zehn Leipziger Stadtbezirke deutlich größer sind, mehrere Ortsteile umfassen und der Weg zum Sitzungszimmer für die meisten Bewohner doch mit Aufwand verbunden ist.

Geld für Bürgerwünsche

Weshalb es in den Stadtbezirksbeiratssitzungen selten viel Publikum gibt: „Darüber hinaus wurden die Leipzigerinnen und Leipziger gefragt, ob sie in den letzten fünf Jahren an einer Sitzung eines Stadtbezirksbeirates oder Ortschaftsrats teilgenommen haben. Insgesamt bejahen 7 Prozent aller Befragten diese Frage. Auch hier zeigt sich, dass in den randlagigen Ortsteilen das Interesse an regionalen Belangen durch Teilnahme an Ortschaftsrats-Sitzungen größer als in den Stadtbezirken ist. Am häufigsten besuchten Bürgerinnen und Bürger die Sitzungen in Hartmannsdorf-Knautnaundorf (37 Prozent), Holzhausen (26 Prozent) und Burghausen-Rückmarsdorf (21 Prozent).“

Dabei hat sich der Leipziger Stadtrat etwas gedacht, als er der Stadtverwaltung eigene Budgets auch für die Stadtbezirksbeiräte abtrotzte. Denn wenn dort über Projekte entschieden werden kann, die im Stadtbezirk sofort und für alle sichtbar umgesetzt werden, dann ist das nun einmal gelebte und erfahrbare Demokratie.

Die drei größten Bürgerwünsche nach Ortsteilen. Grafik: Stadt Leipzig, Bürgerumfrage 2021
Die drei größten Bürgerwünsche nach Ortsteilen. Grafik: Stadt Leipzig, Bürgerumfrage 2021

Aber nach diesen Budgets gefragt, sind die meisten Leipziger genauso ahnungslos wie bei der Kenntnis der Stadtbezirksbeiräte. „Besonders bekannt ist diese Verfügbarkeit finanzieller Mittel in randlagigen Ortsteilen wie Mölkau (52 Prozent), Böhlitz-Ehrenberg (38 Prozent), Seehausen (35 Prozent), Holzhausen (33 Prozent) und Lützschena-Stahmeln (32 Prozent)“, stellt der Bericht fest. Und das sind die Ortschaftsräte, die sowieso über einen hohen Bekanntheitsgrad verfügen.

Je weiter man in die Stadtmitte kommt, umso mehr Ahnungslosigkeit herrscht vor.

Obwohl es um den direkten Wohnort der Befragten geht.

Und das Verblüffende ist: Die haben tatsächlich Wünsche. Und zwar solche, die ihr Umfeld grüner und lebenswerter machen würden – von Blühwiesen (51 Prozent der Nennungen) über Stadtteilbegrünung (38 Prozent), Parkbänke (34 Prozent) usw.

Sie sind also keineswegs wunschlos glücklich. Und ihre Wünsche decken sich in vielem mit den Budgetanträgen in den Stadtbezirksbeiräten. Aber natürlich auch mit etlichen Anträgen aus dem Stadtrat, der ja nun seit Monaten zäh mit der Verwaltung darum ringt, im Stadtgebiet Biotope und Grün zu erhalten und nicht mit jedem Bauprojekt alles zu opfern.

Denn gerade die Wünsche zur Stadtteilbegrünung zeigen, wie sich gerade in den inneren Ortsteilen der Wunsch nach mehr Grün ballt und artikuliert.

Ein Problem der Kommunikation

Was ja heißt: Auch all die befragten Leipzigerinnen und Leipziger, die keine Ahnung von Stadtbezirksbeiräten und ihren Budgets haben, machen sich sehr wohl Gedanken darüber, was in ihrem direkten Wohnumfeld fehlt und geändert werden müsste. Eigentlich ein gewaltiges Potenzial, Dinge in der Stadt tatsächlich ins Rollen zu bringen, wenn man die Menschen zum Mitmachen bewegen könnte.

Und möglicherweise hängt das direkt damit zusammen, wie sich die Leipziger eigentlich über kommunale Politik informieren. Dazu lohnt sich der Blick in eine andere Rubrik des Berichts, in der es um Wohngeld und soziale Hilfen geht. Dort hat die Verwaltung diesmal gefragt, wie sich die Leipziger eigentlich zu den sozialen Hilfsangeboten der Stadt informieren.

Wo die Verwaltung glaubt, dass sich die Bürger über soziale Hilfsangebote informieren. Grafik: Stadt Leipzig, Bürgerumfrage 2021
Wo die Verwaltung glaubt, dass sich die Bürger über soziale Hilfsangebote informieren. Grafik: Stadt Leipzig, Bürgerumfrage 2021

Das Ergebnis ist ungefähr die Medienlandschaft von 1992. Als wäre das Internet noch „Neuland“, wie einmal eine begabte Nachwuchspolitikerin sagte, und das Smartphone noch lange nicht erfunden.

Vielleicht liegt es ja daran, an diesem alten Denken mit den Vorstellungen eines vergangenen Jahrhunderts, die die beiden nicht zusammenkommen lassen: Die Stadt mit ihrer Informationspolitik, und die Bürger, in deren „Newsfeeds“ Nachrichten aus der lokalen Politik gar nicht erst auftauchen.

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Es gibt 3 Kommentare

Ich bin mir sicher, dass die Menschen in den Aussenbezirken länger dort wohnen, Häuser besitzen und sich mehr mit dem Ort verbunden fühlen als hektische Stadtbewohner die ständig ihre Bezirke wechseln.

Zudem läuft der Ausverkauf der Stadt und die Umverteilung im stillen Kämmerlein auf Hochtouren. Einige sind sehr froh, über die “Politikverdrossenheit” gewährt es ihnen doch unzählige Privilegien. Die Kuh muss schließlich gemolken werden.

Manchmal merke ich: sich an Politik beteiligen bedeutet seine “wertvolle” Zeit, in der man einfach nur seine Ruhe haben will, dafür zu verwenden sich zu informieren, sich mit Dingen wirklich sachlich zu befassen, zu hinterfragen, lernen wie man mit anderen Menschen wertschätzend kommuniziert. Lernen wie man einen Text verfasst oder nur mal anderen Menschen ohne Bewertung zuhört, auf Rechthaberei verzichtet. Lernt einen 10-seitigen Text zu lesen und zu verstehen. Alles unbequeme Dinge. Sich all diese Dinge nicht anzutun ist wesentlich einfacher und man kann der bleiben , der man immer war. Nicht umsonst gibt es von Stefan Hessel das Buch “Verändert Euch”.

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