Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) hat in den vergangenen Wochen eine Botschaft mantraartig wiederholt: „Wir können uns den Sozialstaat nicht mehr leisten.“ Da er (wahrscheinlich bewusst) offenließ, was er mit „Sozialstaat“ im Einzelnen meint, bleibt das haften, was er in diesem Zusammenhang immer anprangert: das Bürgergeld. Damit soll suggeriert werden: Das Bürgergeld ist die Hauptursache für die Löcher im Bundeshaushalt und die Schieflage in den Sozialsystemen; wenn dieses gekürzt wird, dann wird es auch wieder einen ausgeglichenen Haushalt geben.
Verschwiegen wird von Merz geflissentlich, in welchen Größenordnungen sich eine Kürzung des Bürgergeldes bewegen würde. Es wird auch verschwiegen, dass eine der Hauptursachen für die prekäre Haushaltslage des Bundes die Gelder sind, die seit 2022 für Verteidigung, Hochrüstung und die Unterstützung der Ukraine bereitgestellt werden.
Nun hat die SPD Co-Vorsitzende und Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas die Merz-Floskel vom Sozialstaat, der nicht mehr finanzierbar sein soll, als „Bullshit“ bezeichnet, also als Quatsch und Unsinn. Richtig daran ist, dass die allgemeine Feststellung von Merz null Perspektive eröffnet und reine Stimmungsmache ist. Das Problem aber sowohl bei Merz wie bei Bas ist: Alle Aussagen zum Sozialstaat bewegen sich auf der rein fiskalischen Ebene.
Die gesellschaftspolitischen Probleme, die es zu lösen gilt, werden dadurch eher verschleiert. Jeder kann wissen: Das Einsparpotential beim Bürgergeld ist sehr begrenzt. Die Missbrauchsquote liegt bei ca. 1-2 %. Die möglichen Kürzungen (wozu auch die Nicht-Erhöhung des Bürgergeldes 2026 gehört) machen einen sehr überschaubaren Milliardenbetrag aus – zumal das Bundesverfassungsgericht der jeweiligen Bundesregierung auferlegt hat, das Existenzminimum der Bürger/-innen, die auf Sozialleistungen wie das Bürgergeld angewiesen sind, zu sichern.
Auch der Vorschlag vom Vorsitzenden der CSU Markus Söder, die Geflüchteten aus der Ukraine vom Bürgergeld ins Asylsystem zu überführen, wird den Bundeshalt kaum entlasten – zumal sich Söder dann im nächsten Jahr über exorbitante Mehrausgaben für Asyl beklagen würde. Also ist auch nichts anderes als „Bullshit“.
Doch was ist das eigentliche Problem? Es ist der kontinuierliche Aufwuchs der Menschen, die in prekären Verhältnissen leben und dauerhaft auf Zuwendungen aus den Sozialhaushalten angewiesen sind, deren gerechte Teilhabe an Arbeit, Wohnen, Bildung, Einkommen aus den unterschiedlichsten Gründen nicht mehr gewährleistet ist und die voraussichtlich über Jahrzehnte von finanziellen Staatsleistungen leben – wenn, ja wenn diesem fatalen Räderwerk nicht in Speichen gegriffen wird.
Das sind Schulabbrecher/-innen, Menschen ohne abgeschlossene Berufsausbildung, Bürger/-innen, die schon in der zweiten, dritten Generation am gesellschaftlichen Leben nicht mehr teilhaben. Jedes Jahr verlassen über 50.000 Jugendliche die allgemeinbildenden Schulen ohne Schulabschluss – und das seit über zwei Jahrzehnten. Ein nicht unerheblicher Teil der Jugendlichen wächst in einem familiären Umfeld auf, in dem kaum auf einen geregelten Tagesablauf und auf die Aneignung von Grundfertigkeiten des Lebens geachtet wird.
Viele dieser Menschen (deutsche Staatsbürger/-innen wie Migrant/-innen) beherrschen – wenn überhaupt – nur rudimentär Lesen, Schreiben, Rechnen, von sehr eingeschränkten Sozialkompetenzen ganz zu schweigen. Der soziale Sprengsatz, der sich da entwickelt (hat), kann weder durch Kürzung noch durch Ausweitung der finanziellen Sozialleistungen entschärft werden.
Vielmehr sind enorme Investitionen in den Bildungseinrichtungen (Kita und Schule) wie der orts- und stadtteilbezogenen bezogenen Sozialarbeit nötig, um personale Intervention und Begleitung zu ermöglichen: damit ein verpflichtender Kitabesuch durchgesetzt werden kann, der Schulpflicht nachgekommen wird und von den Kindern die Grundkompetenzen vor allem in der Grundschule erreicht werden.
Jede einzelne Bildungseinrichtung muss sich hier auf Ziele verständigen, benötigt aber auch die personale und finanzielle Ausstattung, um diese Ziele zu erreichen. Nur so kann das Ziel „Kein Kind/Jugendlicher verlässt die Schule ohne Abschluss und Aussicht auf eine Berufsausbildung“ erreicht werden. Nur so kann aus der Spirale der sozialen Verelendung ausgebrochen werden, und gleichzeitig wird dies zur wirtschaftlichen Entwicklung beitragen.
Um dies zu erreichen, müssen vor allem Kitas, Grund- und Hauptschulen sowie der allgemeine Soziale Dienst der Kommunen personell, finanziell und mit entsprechenden Kompetenzen auskömmlich ausgestattet werden. Neue Gesetze sind dafür nicht nötig, eher neue Einstellungen zu einer Aufgabe, die nicht „von oben“, auch nicht mit „Regelsätzen“ zu lösen ist. Für deren Lösung ist orts- und menschenbezogene Bildungs- und Sozialarbeit nötig. Das Erfreuliche ist: Von einer solchen Qualifizierung der Einrichtungen vor Ort profitieren alle!
Für die Sozialdemokratie ist es höchste Zeit, dass sie jetzt eine Grunderfahrung der Arbeiterbewegung in die Debatte einbringt: Der Mensch lebt eben nicht nur von einem gerechten Lohn und menschenwürdigen Arbeitsbedingungen. Er benötigt auch ein soziales (Wohn-)Umfeld, in dem sich familiäres Leben entwickeln, Kinder aufwachsen und an Bildung teilhaben können.
Es geht also nicht um die Frage, ob wir uns den Sozialstaat noch leisten können, sondern was wir tun müssen, damit die gerechte Teilhabe der Menschen an Arbeit, Wohnen, Bildung verbessert wird – und zwar der Menschen, die derzeit sozial vernachlässigt werden bzw. sich selbst vernachlässigen. Das wird – da bin ich sehr hoffnungsvoll – zu einem mehr an gesellschaftlichem Miteinander führen, die Akzeptanz demokratischen Zusammenlebens fördern und sich finanziell tragen.
Christian Wolff, geboren am 14. November 1949 in Düsseldorf, war 1992–2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjähriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater für Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er lebt in Leipzig und ist gesellschaftspolitisch in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens engagiert. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/
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