Zwei Bemerkungen in Kommentaren zum letzten Blog-Beitrag haben mich mehr als hellhörig gemacht – zumal sie etwas zum Ausdruck bringen, was sich in unzähligen Kommentaren zum gegenwärtigen Geschehen wiederfindet. Darauf gehe ich in folgendem Beitrag genauer ein und zeige auf, welches Problem sich meiner Ansicht nach aus den dahinter stehenden Denkmustern ergibt.
- In der internationalen Politik geht es niemals um Werte oder Demokratie, sondern immer um Interessen. (Hans Schneider, 28.08.2025)
- Was bringt es z. B., in Donald Trump ausschließlich den tumben Faschisten zu sehen, und nicht zu versuchen, die innere Logik seines Tuns zu erfassen? Und dadurch vielleicht zu erkennen, dass hinter seinen (sicherlich dilettantisch) betriebenen Friedensbemühungen auch ernstzunehmende US-amerikanische Staatsinteressen stehen? (Johannes Lerchner, 24.08.2025)
Beide Bemerkungen in benanntem Beitrag klagen eine Rationalisierung der Argumentation ein, mit dem Hinweis darauf, dass es in der internationalen Politik ausschließlich um „Interessen“ gehen würde. Auffällig ist: Immer dann, wenn in der politischen Argumentation auch Wertvorstellungen und moralische Maßstäbe angeführt werden, wird gerne auf „Interessen“ hingewiesen – so, als ob diese wertfrei seien.
Das soll zum einen suggerieren, als seien moralische Wertvorstellungen hinderlich, ja schädlich im politischen Diskurs, weil zu emotional. Zum andern soll dies die Vorstellung untermauern, als seien Staatsmänner und -frauen kühl kalkulierende, rational handelnde Personen.
Letzteres allerdings halte ich für ein Ammenmärchen. Gerade autokratisch herrschende Staatenlenker/-innen weisen zumeist stark egomanische Züge auf und befeuern im eigenen Machtbereich gezielt Emotionen. Staatlich verordnete und entsprechend inszenierte Huldigungszeremonien unterstreichen dies auf groteske Art und Weise – sei es der Sieben-Meter-Tisch Putins, seien es die „Gesprächsrunden“ im Weißen Haus, in denen Trump – bewundert von seiner ihn anhimmelnden Entourage – Staatsgäste wie Schulbuben aussehen lässt.
Wenn solche Inszenierungen dann nach Jahren in Erinnerung gerufen werden, werden sich die meisten Menschen an den Kopf fassen und sich fragen: Wie konnten hochgebildete Menschen auf solches Theater hereinfallen? Wie ist es möglich, dass man zu Lebzeiten solche Karikaturen ihrer selbst huldigt und ihr Treiben ständig zu rationalisieren versucht? Darum muss die angebliche Entemotionalisierung im politischen Diskurs ihre Grenzen dort finden, wo es darum geht, absurdes Polit-Theater zu normalisieren, sozusagen dem nackt agierenden Kaiser seine Kleidung anzudichten.
Doch die Rede von den „Interessen“ ist noch aus einem weiteren Grund höchst verräterisch. Diejenigen, die dies als Argument für nüchternes Argumentieren anbringen, gehen wie selbstverständlich davon aus, dass die „Interessen“ legitim, begründbar sind, eventuell sogar auf einer irgendwie gearteten Mehrheitsentscheidung beruhen.
Doch welche und vor allem wessen Interessen verfolgen denn ein Wladimir Putin oder ein Donald Trump, ein Recep Tayyip Erdoğan oder ein Benjamin Netanjahu? Was sind denn die „ernstzunehmenden US-amerikanischen Staatsinteressen“, von denen Johannes Lerchner spricht?
Welche Rationalität soll ich im Dauerbombardement der russischen Armee auf die Ukraine in der Nacht vom 27. auf den 28. August oder im Aufbau einer Bürgerkriegsarmee durch Trump in den USA oder in der Totalzerstörung des Gaza durch die Armee Israels erkennen?
Vor allem aber: Verbirgt sich hinter dem Wort „Interessen“ nicht ein großes Ablenkungsmanöver von all den auch moralischen Werten wie Demokratie, Gleichberechtigung, Frieden, Abrüstung, Menschenrechte, durch die die Aktionen der Autokraten delegitimiert werden? Soll dies nur den Weg dafür ebnen, dass alle möglichen STOP-Schilder moralischer, demokratischer Werte aus dem Weg geräumt werden?
Machen wir uns nichts vor. Die Rede von den „Interessen“ lenkt vor allem davon ab, was ist: Mit der sog. „… first“-Politik soll weltweit ein neuer Nationalismus mit imperialem Anspruch (= Interessen) implementiert werden. Diesem werden jetzt schon Völker und Länder (Ukraine, Palästinenser) geopfert werden. Innenpolitisch entpuppt sich die „… first“-Politik als Pendent eines immer weiter um sich greifenden Indivudual-Egoismus „Ich bin das Volk“.
Dieser lässt jeden kritischen Diskurs, jede demokratische Partei, jeden demokratischen Entscheidungsvorgang als unfähig aussehen, weil diese auf Ausgleich der Interessen, auf Kompromiss, auf Frieden setzen. Trump-Amerika und Putin-Russland wollen aber mit allen Mitteln das, was ihren Machtinteressen zuwiderläuft, zerstören – so auch die Europäische Union. Darum ist ihre Politik militant gegen Beteiligung, Vielfalt, Ausgleich im eigenen Land wie weltweit gerichtet.
Gleichzeitig versuchen sie im Innern wie nach außen formierte, nationalistisch ausgerichtete Gesellschaften zu begründen. Wer vor dieser Strategie die Augen verschließt, der redet derzeit gerne von „Interessen“. Er beschönigt gefährlich-skurril agierende Autokraten als Fassade für knallharte, egomanische Interessenpolitik. Am Ende bedient das die Agenda der Rechtsnationalisten und das Bedürfnis vieler Menschen nach den ganz einfachen Antworten.
Christian Wolff, geboren am 14. November 1949 in Düsseldorf, war 1992–2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjähriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater für Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er lebt in Leipzig und ist gesellschaftspolitisch in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens engagiert. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/Â
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Keine Kommentare bisher
Lange nicht mehr so einen pseudointellektuellen aber letztendlich banalen Text gelesen, der einzig und allein auf die eigene subjektive Wahrnehmung und nicht auf Objektivität abstellt.