Das mit dem Übergewicht ist ein komplexes Thema. Es hat mit falscher Ernährung zu tun, mit fehlender Bewegung, auch mit fehlendem Familienleben. Ein Thema, das die AOK in ihrer jüngsten „AOK-Familienstudie 2018“ beleuchtet hat. Und das Ergebnis ist auch deshalb nachdenkenswert, weil es zeigt, dass auch die Stadträume, in denen Familien leben, darüber entscheiden, ob die Kinder übergewichtig, demotiviert und unkonzentriert sind. Oder mal so formuliert: Falsche Stadtpolitik macht krank. Dauerhaft.

Auch wenn das erste Fazit, das die AOK zieht, lautet: In vielen deutschen Familien kommt Bewegung zu kurz.

Das IGES-Institut befragte dafür 5.000 Mütter und Väter, darunter je 500 in Sachsen und Thüringen.

Aber die grundlegende Fragestellung zielt auf die städtische Umgebung. Das wissen auch Erwachsene: Wenn sich draußen vor der Haustür keine selbstverständlichen Räume für ungefährdete körperliche Bewegung anbieten, wird es entweder schwer, sich die nötige Bewegung zu verschaffen. Oder man verzichtet. Und da die Wohnung ja meist mit lauter Unterhaltungsmedien zugestellt ist, wird aus dem Zuhausebleiben oft genug ein Leben in Unbeweglichkeit und die Motivation, überhaupt noch etwas zu unternehmen, nimmt noch weiter ab.

Schwerpunktmäßig widmet sich die Familienstudie der Frage, welchen Einfluss die kommunale Infrastruktur auf die Bewegungsfreudigkeit von Familien hat.

Die Ergebnisse: Kinder, die laut Eltern in einem bewegungsfreundlichen Wohnumfeld leben, bewegen sich im Schnitt an 3,8 Tagen pro Woche und damit 27 Prozent mehr als Kinder, die diese Bedingungen nicht vorfinden (3,0 Tage pro Woche). Ähnlich sieht es auch beim gemeinsamen Radfahren aus. Über 80 % der Eltern wünschen sich in ihrem direkten Wohnumfeld weitere Verbesserungen bei Spielplätzen, Parks, Sportstätten und Radwegen. Eltern aus Sachsen und Thüringen schätzen ihre Umgebungsbedingungen schlechter ein als Eltern in anderen Bundesländern.

Wenn Angebote fehlen

45 % der befragten Eltern bewegen sich täglich mit ihren Kindern, in Sachsen sind es 41 % und in Thüringen nur 39 %. Für jede dritte Familie spielt körperliche Aktivität in der Freizeit überhaupt keine Rolle.

Ein Grund hierfür könnte zeitlicher Stress sein, vermutet die Krankenkasse. Immerhin 40 % der Befragten sehen ihn als größten Belastungsfaktor an. In Sachsen sind es sogar 44 %, in Thüringen 46 %. Was eben auch mit der Job-Landschaft in den beiden Ländern zu tun hat, mit langen Arbeitszeiten und oft ungenügend ausgebauten Verkehrssystemen. Die Zeit, die da verloren geht, fehlt den Familien.

Und dann kommt ganz schnell das nächste Problem dazu: Am zweithäufigsten wurden jeweils finanzielle und psychische Belastungen als Grund genannt.

Und das Ergebnis bestätigt das, was die Leipziger Forscher in ihrer LIFE-Studie immer wieder bestätigt finden: Wenn schon Eltern im Kreislauf von Immobilität und Übergewicht gefangen sind, übertragen sie diese Lebensgewohnheiten auch auf die Kinder. Auffällig ist nämlich, dass bei übergewichtigen oder adipösen Eltern regelmäßige aktive Bewegung in der Familie eher kleingeschrieben wird. Laut Umfrage sind 36 % übergewichtig, 22 % adipös (Sachsen 37 bzw. 21 %, in Thüringen 35 bzw. 22 %).

Das heißt: Mehr als die Hälfte der Befragten hat zu viel Lebendgewicht auf den Rippen. Und wer mehr zu schleppen hat, vermeidet anstrengende Bewegung lieber.

Städte können gegensteuern

„Die Studie bekräftigt unsere Strategie, partnerschaftlich kluge kommunale Konzepte zu entwickeln, um die Rahmenbedingungen für ein gesünderes Verhalten der Familien zu fördern“, sagt Heiko Kotte, Bereichsleiter Gesundheitsförderung bei der AOK PLUS. „Unsere Aufgabe ist es, die Menschen zu informieren und zu einem gesunden Leben zu motivieren, ebenso, die Träger und Einrichtungen im Gesundheitsförderungsprozess zu begleiten, aber wir können nicht Sportplätze oder Radwege bauen.“

Dabei sucht die Krankenkasse die Kooperation mit den Städten.

Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, Dr. Gerd Landsberg, betont die Schlüsselfunktion der Kommunen bei gesunder Bewegung und Ernährung von Kindern und Jugendlichen: „Nach dem Motto ‚Kommune in Bewegung‘ sollten die Städte und Gemeinden vor Ort gemeinsam mit Eltern, Vereinen, Schulen und auch Kindergärten Konzepte entwickeln, wie man die eigenständige Mobilität und gesunde Ernährung von Kindern und Jugendlichen vorantreiben kann.“

Mit der Stadt Leipzig und der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK) betreibt die AOK PLUS seit 2015 die „Koordinierungsstelle kommunale Gesundheit“.

„Ein bundesweit richtungsweisendes Projekt“, so Heiko Kotte. 2017 wurden über diese Koordinierungsstelle 13 Projekte entwickelt, finanziert und begleitet. Inzwischen beteiligen sich neben der AOK PLUS fünf weitere Krankenkassen, was ein höheres Fördervolumen ermöglicht. Die Mitarbeiter der Koordinierungsstelle beraten inzwischen schon mehrere andere Kommunen, die ähnliche Strukturen aufbauen wollen.

„Ein Weg in die richtige Richtung“, so Kotte. „Wenn die Menschen unkompliziert Bewegungsangebote nutzen können, steigen die Chancen, dass sie körperliche Aktivitäten als etwas Selbstverständliches in ihren Alltag integrieren.“

Aber die Details der Studie gehen noch weiter, denn gerade die Kinder, die sowieso schon zu wenig Bewegung haben, leiden auch noch unter den psychischen Folgen wie Gereiztheit und schlechte Laune, Einschlafproblemen und Bauchschmerzen.

Eigentlich auch alles Probleme, die man genauso bei immobilen Erwachsenen vermuten darf. Aber das wäre ein eigenes Forschungsfeld. Möglicherweise sogar ein hochpolitisches, denn wenn immer mehr Menschen immobiler und missmutiger werden, verändert das auch die Stimmungslagen und die Problemwahrnehmungen in einer Stadt.

Dann kümmert man sich eher um immobile Themen wie „Ordnung und Sicherheit“ und vernachlässigt wichtige Themen wie Radverkehr und Grünflächen. Und dass in Leipzig noch vieles im Argen liegt, belegen alle Bürgerumfragen der letzten Jahre, die auch von einem sehr bedenklichen Gesundheitszustand in allen Altersklassen berichten.

Und gerade das Stichwort Finanzen in der AOK-Studie verweist auf die Tatsache, dass körperliche Bewegung in einer Stadt wie Leipzig auch ihren Preis hat und viele Familien darauf auch deshalb verzichten, weil sie dafür in ihrem Budget keine Spielräume haben.

Umso peinlicher wirkt vor diesem Hintergrund der Plan des sächsischen Kultusministers Christian Piwarz (CDU), die Zahl der eh schon knappen Sportstunden in der Schule noch weiter zu verknappen.

Der Gesamtgesundheitszustand der Leipziger hat sich seit 2013 eher verschlechtert

Der Gesamtgesundheitszustand der Leipziger hat sich seit 2013 eher verschlechtert

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