Die zweite Lockdown-Phase ist weniger radikal als die erste im Frühjahr dieses Jahres. Schulen und Kindergärten sind weiterhin noch geöffnet, genauso wie die Geschäfte und längst haben nicht alle Unternehmen ihre Beschäftigten in Kurzarbeit oder ins Homeoffice geschickt. Was das Leben mit Kontaktbeschränkungen für uns bedeutet, wer besonders darunter leidet und welche Wege es gibt, die Psyche in grauen Novembertagen aufzuhellen, erklärt im Interview Prof. Hendrik Berth.

Er ist Leiter der Forschungsgruppe Angewandte Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie im eigenständigen Bereich für Psychosoziale Medizin und Entwicklungsneurowissenschaften am Dresdner Universitätsklinikum.

Herr Professor Berth, in Deutschland leiden nach Angaben der Stiftung Deutsche Depressionshilfe mehr als fünf Millionen Menschen an Depressionen. Sie trifft die Pandemie besonders. Doch was macht Corona mit den Gesunden?

Keine Frage, die Pandemie greift in unser aller Leben ein. Als besonders bedrohlich und beängstigend empfinden das allerdings die Personen, die schon vor dem Corona-Ausbruch unter psychischen Erkrankungen gelitten haben. Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe hat den ersten Lockdown im Frühjahr genutzt und eine große Befragung durchgeführt. Die Ergebnisse wurden unlängst vorgestellt und sie zeigen, dass drei von vier Menschen, die unter Depressionen leiden, das Frühjahr als sehr bedrückend erlebt haben.

In der Allgemeinbevölkerung waren es immerhin 59 Prozent. Als besonders belastend wurde von beiden Gruppe die fehlende Tagesstruktur empfunden. Bei nahezu jedem zweiten depressiven Patienten führte das dazu, dass große Teile des Tages im Bett verbracht wurden – eine Form des sozialen Rückzugs, die die Depressionen weiter verstärkt.

Wir befinden uns gerade im zweiten, sanften Lockdown. Er begann Anfang November, vor uns liegen kurze Tage, wenig Sonnenschein und viel grauer Himmel. Wird das nach Ihrer Einschätzung Auswirkungen auf die Zahl und Schwere psychischer Erkrankungen haben?

Es ist zu vermuten, dass die Beschränkungen von einigen Bevölkerungsgruppen noch bedrohlicher erlebt werden als im Frühjahr. Wir haben es hier sicher nicht mit einheitlichen Effekten zu tun. Da spielen viele Faktoren eine Rolle, neben möglichen psychischen Vorerkrankungen ist auch der sozioökonomische Status entscheidend. Im ländlichen Raum mit Haus und Garten sind Kontaktbeschränkungen oder gar Quarantäne leichter zu ertragen als in einer Zwei-Raumwohnung ohne Balkon.

Zahlreiche Studien haben bereits gezeigt, dass es vor allem Arbeitslose, chronisch Kranke, Singles, Alleinerziehende und Menschen mit niedrigerem Bildungsgrad sind, die unter der aktuellen Situation besonders leiden – also all jene Bevölkerungsgruppen, die es ohnehin schon schwerer im Leben haben.

Kindergärten und Schulen haben, anders als im Frühjahr, geöffnet. Welche Rolle spielt das für die seelische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen?

Eine sehr entscheidende, denn Kindergarten und Schule bedeutet nicht nur Wissensvermittlung. Der Mensch ist ein soziales Wesen und gerade für Kinder ist der Kontakt mit Gleichaltrigen, die soziale Interaktion grundsätzlich, essentiell. Die politische Willensbekundung, die Schulen und Kindergärten geöffnet zu lassen, wann immer das Infektionsgeschehen es zulässt, kann ich daher nur begrüßen.

Denn auch hier haben die Erfahrungen aus dem Frühjahr 2020 gezeigt, dass es vor allem die Kinder aus bildungsferneren und einkommensschwächeren Schichten sind, die unter den Schließungen gelitten haben.

Welche Möglichkeiten gibt es, die eigene Resilienz und damit die psychische Gesundheit zu stärken?

Ob und wie stark man die Pandemie als persönliche Bedrohung erlebt, hängt von vielen Parametern ab. Selbst mit einer robusten Psyche können monatelange Kurzarbeit und ein drohender Jobverlust Existenzängste auslösen. Zahlreiche Studien belegen, dass die Neigung zu Depressionen bei den Menschen geringer ist, die eine Situation als Herausforderung sehen und in der Rolle des aktiv Handelnden bleiben.

Wer aber das Gefühl hat, einer Situation mehr oder weniger hilflos ausgeliefert zu sein, für die es darüber hinaus keinen erkennbaren zeitlichen Rahmen gibt, der neigt eher zu depressiven Erkrankungen.

Dieses Gefühl dürften vor allem die erleben, deren Restaurants gerade wieder geschlossen und deren Veranstaltungen abgesagt werden mussten. Was könnten Sie ganz praktisch tun?

Ein fester Ablauf strukturiert den Tag. Man kann sich Aufgaben stellen, die abgearbeitet werden müssen. Man kann die Zeit nutzen, um Projekte und Ideen für die Zeit nach der Pandemie zu entwickeln – und ganz wichtig sind die sozialen Kontakte. Telefonate und Videochats können und müssen vorübergehend die persönlichen Treffen ersetzen. Auch sie sollten fest in den Tagesablauf integriert werden.

Das Interview führte Ines Mallek-Klein, Referentin Öffentlichkeitsarbeit an der Medizinischen Fakultät Carl Gustav Carus Dresden.

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