Das Thema Einsamkeit beschäftigt die Menschen zunehmend, nicht erst seit der Corona-Pandemie. War früher Einsamkeit oft selbst gewollt, beispielsweise bei Eremiten, so ist sie heute geradezu ein medial aufgeladener Begriff geworden. Viele reden und schreiben darüber, es gibt Initiativen, wie die „Martinsschmaus Stiftung“ in Jena, die sich mit der „zunehmenden Vereinsamung von Senioren und benachteiligten Menschen“ beschäftigt. Auch die Wissenschaft hat sich seit einiger Zeit des Themas angenommen, in den letzten Jahren wurde intensiv dazu geforscht und publiziert.

Was ist diese Einsamkeit, ist sie nur ein Gefühl oder auch ein soziales und medizinisches Problem? Wir haben dazu ein Gespräch mit Frau Professor Riedel-Heller vom Universitätsklinikum Leipzig geführt. Professorin Riedel Heller forscht zum Thema Einsamkeit und war an der Erarbeitung des Editorials im Bundesgesundheitsblatt vom September 2024 „Einsamkeit: Ein Begriff für viele Wirklichkeiten“, auf welches wir uns im Interview beziehen, maßgeblich beteiligt. Für das Gespräch haben wir vereinbart, bei der Anrede auf den akademischen Titel zu verzichten.

Frau Riedel-Heller, was ist eigentlich diese „Einsamkeit“ aus der Sicht der Wissenschaft, also für die Gesundheits- und Sozialwissenschaften? Was ist der Unterschied zwischen einsam und allein?

Da gibt es einen großen Unterschied. Einsamkeit ist die Diskrepanz zwischen dem gewünschten „in-Gesellschaft-sein“ und dem aktuellen Zustand. Man wünscht sich zum Beispiel mehr in Gesellschaft zu sein, als man ist. Alleinsein bedeutet dagegen, dass man in einem Moment allein ist, so ganz neutral.

Manche suchen das Alleinsein zum Beispiel bei einem Aufenthalt im Kloster. In diesem Zusammenhang ist es positiv besetzt. Alleinsein bedeutet nicht automatisch, sich einsam zu fühlen. Aber es gibt Zusammenhänge: Menschen, die sehr oft allein sind, sind auch öfter einsam. Trotzdem kann man das keinesfalls gleichsetzen.

Im o.g. Editorial heißt es: „Die Wissenschaft ist sich einig, dass Einsamkeit als subjektives Empfinden abzugrenzen ist von der sozialen Isolation als einem objektiven Sachverhalt.“ Wie kann man das, als Nichtwissenschaftler unterscheiden?

Der Unterschied zwischen dem, was man sich wünscht und so wie es ist, ist ja eine Bewertung. Diese Bewertung ist etwas Subjektives. Bei der sozialen Isolation kann geht es um die Größe von Netzwerken, um die Zahl der Bekannten, um die Häufigkeit des Kontaktes. Das kann man gut zählen und damit messen. Soziale Isolation ist mehr ein objektives Maß.

Also Einsamkeit ist eigentlich dieses subjektive Empfinden?

Genau, wie der einzelne Mensch seine Situation bewertet. Natürlich hängen auch soziale Isolation und Einsamkeit zusammen. Menschen, die sozial isoliert sind, sind häufiger auch einsam, aber nicht zwangsläufig.

Gibt es überhaupt „Die Einsamkeit“? Ich erinnere mich, dass es 1969 in „Streets of London“ hieß: „So, how can you tell me you′re lonely and say for you that the sun don’t shine? Let me take you by the hand and lead you through the streets of London. Show you something to make you change your mind“, also sinngemäß „Hab Dich nicht so, andere sind einsamer als Du“. Ist jeder Mensch anders einsam?

Ja, es ist ja doch ein sehr subjektives Konstrukt und insofern auch eine subjektive Bewertung. Ich würde schon sagen, dass es da Nuancen gibt. Von Seiten der Wissenschaft haben wir etablierte Fragebögen und Skalen, die zum Einsatz kommen, um das Phänomen zu beschreiben. Aber es ist bleibt immer nur eine Beschreibung der Wirklichkeit.

Die Zahlen steigen, im Paper ist von einer Verfünffachung seit 2019 (vor der Pandemie) die Rede. Es hat den Anschein, als beträfe Einsamkeit nicht nur Senioren und benachteiligte Menschen, sondern sie zieht sich durch alle Alters- und Gesellschaftsschichten, kann man das so sagen?

Ich denke, wir können es noch ein bisschen differenzierter machen. Die „Häufigkeit von Einsamkeit“ ist eine sogenannte U-Kurve. Und zwar mit Gipfeln bei jüngeren Menschen und dann wieder im Alter und im hohen Alter. Das weiß man. Wir wissen auch, dass in der Pandemie die Einsamkeit hoch war und dass sie teilweise auch noch nicht wieder auf das normale Niveau zurückgegangen ist.

Schnell kommt die Idee einer Einsamkeits-Epidemie auf. Und einiges spräche dafür: es gibt mehr Single-Haushalte, es gibt mehr Arbeitsmigration, es gibt weniger Mehrgenerationenhäuser, soziale Netzwerke sind häufig zerstreut, die Scheidungsraten sind hoch, die Kinderzahl ist gering.

Allerdings ist die Frage wissenschaftlich nicht ganz so einfach zu beantworten, wir müssten Einsamkeit über sehr lange Zeiträume immer genauso messen. Man beschäftigt sich noch nicht so lange aus wissenschaftlicher Sicht damit. Eine Kollegin, Maike Luhmann, hat sich intensiv mit diesem Thema beschäftigt.

Sie ist dieser Frage im Rahmen einer sogenannten Meta-Analyse zu nachgegangen, die eine Vielzahl von Studien zusammenfasst. Sie konnte zeigen, dass es nicht so ist, dass wir eine uniforme Steigung feststellen können. Da gibt es spezifische Effekte, ein bisschen bei jungen Leuten, in spezifischen Regionen, aber ein ganz gleichmäßiger steigender und massiver Trend konnte nicht gefunden werden.

Zur Einsamkeit in der COVID19-Pandemie haben wir selbst geforscht. In der NAKO-Studie, der größten deutschen Kohortenstudie, wurden in der Pandemie über 100.000 Menschen dazu postalisch befragt. 31,5 %, also knapp ein Drittel, waren einsam. Das ist vor dem Hintergrund der Maßnahmen der sozialen Distanzierung nicht überraschend.

Meta-Analysen, die auf vielen Längsschnittstudien fußen, die Einsamkeit vor und in der Pandemie mit denselben Instrumentarien gemessen haben zeigen, dass Einsamkeit zugenommen hat, aber nicht so dramatisch – es wird sich von dieser Epidemie-Idee eher distanziert. Trotzdem hat das Thema Relevanz.

Besonders die Einsamkeit von Kindern und Jugendlichen steht oft im Fokus der Diskussionen. Welche Faktoren sind dort anders, als bei älteren Menschen?

Ich selber forsche ja mehr zum älteren Menschen, aber es ist bekannt, dass Einsamkeit bei Kindern und Jugendlichen im Fokus steht. Wir wissen auch aus der U-Kurve, dass sie dort häufig vorkommt. Vielleicht zuerst zu dem, was man so ganz allgemein über die Ursachen von Einsamkeit weiß. Es gibt nicht den einzelnen Grund – es gibt viele Einflussfaktoren auf verschiedenen Ebenen – wir nennen dies multifaktoriell.

Da gibt es Menschen mit individuellen Faktoren, zum Beispiel mit unterschiedlichen Persönlichkeitsmerkmalen, eher offene oder weniger offene Menschen. Menschen sind in Beziehungen, haben dort Erlebnisse zum Beispiel mit Partnern oder auch einen Partnerverlust. Das spielt im Alter eine besondere Rolle. Einflüsse gibt es auch am Arbeitsplatz, in der Schule, wo es Möglichkeiten zu sozialem Kontakt gibt oder eben auch weniger Möglichkeiten, wie zum Beispiel für arbeitslose Menschen.

Einflussfaktoren liegen auch in Nachbarschaften oder Gemeinden, wo es mehr oder weniger Gelegenheit für sozialen Kontakt geben kann, zum Beispiel in Vereinen oder Jugendtreffs. Da kann man auch an Städte denken, wie die gebaut sind. Gibt es potenzielle Treffpunkte? Und last but not least: Die Gesellschaft als Ganzes hat auch Einfluss zum Beispiel über kulturelle Normen.

Die westliche Welt ist eher individualistisch, die östlichen Völker sind mehr auf Gemeinschaft aus. Auch der Zugang zu Ressourcen und zu Technologie und Digitalisierung – es spielt alles eine Rolle.

Zurück zu den Jugendlichen: Da gibt es eine interessante Studie zur Rolle der sozialen Medien für die Einsamkeit. Die Studie sagt, dass soziale Medien bei alten Menschen eher Einsamkeit reduziert, aber bei jungen Menschen eher fördert. Ich nutze selbst soziale Medien und bin eher technikfreundlich, aber ich sehe schon, dass für sehr junge Menschen da Gefahren lauern, insbesondere wenn ihre Kontakte überwiegend durch diese Medien vermittelt werden.

Ich verstehe das so, dass diese digitale Vernetzung, gerade für Kinder und junge Jugendliche, eventuell die Einsamkeit fördert, weil sie die realen sozialen Kontakte noch nicht haben.

Das hat eine Studie von Maike Luhmann gezeigt. Gleichzeitig gibt es eine Reihe von neueren Arbeiten, auch Meta-Analysen, die zeigen, dass ältere Menschen von sozialen Medien profitieren. Man kann sich das gut vorstellen: Ältere halten ihre Kontakte und nutzen die Medien dann eher dazu, um sich zu verabreden oder vielleicht auch an den Aktivitäten der Kinder, die weit weg wohnen, teilzuhaben.

Das ist eher förderlich. Auch wenn wir jetzt über soziale Medien gesprochen haben, die eine Ursache können wir nicht benennen. Die Gründe sind vielschichtig und können auf verschiedenen Ebenen liegen: dem einzelnen Menschen mit seiner engeren Umgebung, dem weiteren Umfeld, den Nachbarschaften oder Gemeinden und auch auf gesellschaftlicher Ebene. Der Mensch lebt nicht im luftleeren Raum.

Noch eine Frage zu Kindern und Jugendlichen: Während der Corona-Pandemie sind diese in den Fokus geraten, durch Schulschließungen und so weiter. Kann es sein, dass zum Thema Einsamkeit unter Kinder und Jugendlichen seit diesem Zeitpunkt einfach mehr gefragt und geforscht wurde?

Ich denke, das ist auf alle Fälle so, wobei man zu Pandemiebeginn, Kinder und Jugendliche nicht im Fokus hatte. Es waren mehr die alten Menschen, die im Mittelpunkt standen. So haben wir gleich eine Telefonbefragung von über 1000 alten Menschen gestartet. Wir sind von erheblicher Einsamkeit und psychischer Belastung ausgegangen. Was haben wir gefunden?

Alte Menschen waren relativ stabil und nicht wesentlich einsamer. Wir haben dann noch eine vertiefte Befragung nachgeschaltet, eine sogenannte qualitative Studie. Die alten Menschen haben im Kern gesagt: Wir haben schon viel durchgemacht, wir haben Ressourcen, wir könnten eigentlich etwas in diese schwierige Pandemiesituation einbringen.

Erst im Verlauf der Pandemie wurde allmählich klar, dass Kinder und Jugendliche viel stärker betroffen sind. Wenn man darüber nachdenkt, ist das nicht überraschend. Sie stecken noch in ihrer Entwicklung. Menschen sind soziale Wesen, ohne soziales Umfeld können wir uns nicht entfalten.

Im zweiten Teil sprechen wir über gesundheitliche Risiken der Einsamkeit und Strategien.

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Es gibt 2 Kommentare

“Erst im Verlauf der Pandemie wurde allmählich klar, dass Kinder und Jugendliche viel stärker betroffen sind.” Allmählich “klar” wurde das den “vernünftigen” Meinungsführern. Nur Corona Leugner , Schwurbler und Covidioten haben in der Politik Angstkampagnen erkannt und frühzeitig auf mögliche Folgen und Erkenntnisse (Kidies sind keine Spreader!) hingewiesen. Einsame Wissenschaft, trivial dafür aber multifaktoriell.

Einsamkeit ist immer ein soziales Problem. Also sozial im Sinne des gesellschaftlichen Zusammenlebens.

Einsamkeit als Folge sozialen Rückzugs aufgrund von Krankheit und/oder Armut ist noch viel zu wenig in der Öffentlichkeit kommuniziert. Hier gibt es viel zu forschen und noch viel mehr zu handeln

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