Genau in dem Moment, in dem die koalitionsverliebte SPD-Spitze verbal alle Versuche niederbügelte, an den deutschen Sozialgesetzen etwas zu ändern oder gar „Hartz IV“ infrage zu stellen, veröffentlichte der konservative Seeheimer Kreis innerhalb der SPD ein Papier, das man eher vom linken Flügel der alten Tante SPD erwartet hätte. Oder von den Jusos. „Mut zu mehr. Unser Anspruch für ein besseres Morgen“, ist das Positionspapier betitelt.

Darin bündeln die Mitglieder des Seeheimer Kreises ihre Vorschläge für eine bessere Realpolitik der SPD. Und auf einmal taucht ein Wort wieder auf, das seit Gerhard Schröder geradezu verpönt war: Verteilungsfragen.

Denn wer überhaupt noch das Wort „soziale Marktwirtschaft“ in den Mund nehmen will, der muss über Verteilungsfragen reden. Die nämlich Gerechtigkeitsfragen sind. Eine Gesellschaft, in der Menschen trotz Arbeit und trotz Sanktionen vom Lohn ihrer Arbeit nicht leben können, ist nicht gerecht. Wer nach einem Leben voller Arbeit in Armutsrenten abrutscht, ist wohl zu Recht richtig sauer.

Wer Kinder bekommt, aber jede staatliche Unterstützung gegen alle anderen kleinlich aufgerechnet bekommt und hinterher trotzdem nur armselig wirtschaften kann, ist zu Recht zutiefst enttäuscht. Wer sich – trotz Arbeit – die Mieten in den Städten nicht mehr leisten kann, ist zu Recht wütend und entzieht denen, die für diesen Erdrutsch an Ungerechtigkeit verantwortlich sind, das Vertrauen.

Martin Schulz als Bundeskanzlerkandidat hatte das wenigstens kurzzeitig noch begriffen, seine Nachfolger in der Parteispitze sind in die alten Untugenden zurückgefallen, die der SPD in jeder Bundestagswahl seit 2005 immer mehr Stimmen gekostet haben. Lange sang auch der Seeheimer Kreis dieses Lied – auch weil einige der damals prominenten SPD-Funktionäre dort Sprecher und Mitglied waren.

Das hat sich mit der jüngeren Riege der Kreis-Sprecher deutlich verändert. Vielleicht auch, weil mit Dagmar Ziegler aus dem Wahlkreis Prignitz, Ostprignitz, Ruppin eine ostdeutsche Sprecherin im Trio ist, die wahrscheinlich genau hingehört hat in ihrem Wahlkreis und gemerkt hat, dass sich die ostdeutschen Miseren nicht wirklich von den westdeutschen unterscheiden. Hier kommen sie nur – wegen fehlenden Reichtums – härter, schärfer und ruppiger an die Oberfläche.

Und hier ist auch das Gefühl des ungerecht Behandeltseins deutlich stärker, weil die „Reformen“ der letzten Jahre hier ohne Abfederung durchschlugen. Hier landet man schneller in „Hartz IV“, hier sind Niedriglöhne noch immer ein flächendeckendes Thema, hier ist Kinderarmut überall präsent, Armutsrenten werden es gerade. Und dazu kommt die regelrechte Entleerung weiter ländlicher Räume. Hoffnung macht das nicht. Eher Wut, die ja bekanntlich von einer Partei derzeit mit Fischernetzen abgefischt wird.

„Die Erwerbstätigen, die tagtäglich den Wohlstand dieses Landes erwirtschaften, müssen an ebendiesem beteiligt werden. Wir als SPD müssen daher Verteilungsfragen in den Blick nehmen, da nur ein sozial gerechtes Land Heimat für eine friedliche und freie Gesellschaft in einer globalisierten Welt sein kann“, heißt es im Papier.

Und bei „Hartz IV“ wird es schon konkreter: „Es ist eigentlich simpel: Die Lebensleistung arbeitender Menschen verdient Anerkennung. Sie dürfen im Falle von Arbeitslosigkeit nicht nach kurzer Zeit eine soziale und faktische Gleichstellung mit Menschen erfahren, die nie gearbeitet haben. Hier ist ein Abstandsgebot dringend vonnöten. Die derzeitige Regelung beim ALG II entwertet engagierte Lebensläufe. Deshalb muss die Bezugsdauer von ALG I verlängert werden. Ebenso müssen die Regelungen zum angesparten Vermögen geändert werden. Nichts lähmt mehr und schürt Frustration und Verdrossenheit als die Angst vor dem eigenen existentiellen Abstieg.“

Man hat tatsächlich sehr aufmerksam registriert, dass sich der deutsche Staat verändert hat. An Stelle von Fürsorge und Obhut ist ein gesetzlich installiertes Misstrauen in allen Bereichen eingezogen. Und gerade da, wo eine überalternde und schrumpfende Gesellschaft eigentlich alle Hilfe gewähren müsste, wird geknausert und gespart: bei Kindern und Familien. Und noch schäbiger: bei Bildung.

„Ein präventiver Sozialstaat ist wichtiger denn je“, kann man lesen. „Jedes sechste Kind in Deutschland ist von Armut betroffen – Zahlen, die uns nicht kaltlassen. Kinder und Jugendliche in finanziell schwachen Familien haben nichts im ‚Hartz IV-System‘ verloren. Diese brauchen in jungen Jahren jede Unterstützung, sei es durch eine neue Kindergrundsicherung, die Erhöhung der Zuverdienstgrenzen, die Nichtanrechnung von Kindergelderhöhungen sowie kostenfreie Mahlzeiten in Kitas und Schulen.

Die mittlerweile über 150 familienpolitischen Leistungen müssen gebündelt werden und gezielt dort ankommen, wo sie gebraucht werden. Zudem muss selbst verdientes Geld aus der Ausbildung im Geldbeutel der Azubis bleiben. Sie dürfen nicht in Haftung für die Situation ihrer Eltern genommen werden.“

Die Seeheimer fordern genauso eine „Beschäftigungsinitiative gezielt für Alleinerziehende“, die auch auf dem angeblich so florierenden Leipziger Arbeitsmarkt noch immer die Rote Karte haben, und eine Abschaffung der „Leih- und Zeitarbeit in ihrer jetzigen Form“.

Und das Thema Rente hat ja nicht nur mit den mickrigen Renten nach 40 Jahren Jobben für miese Löhne zu tun, sondern auch damit, dass gerade Staat und Parteienfinanzierung üppige Versorgungsmentalitäten entwickelt haben: Staatsbedienstete, die bis zu ihrem letzten Tag staatlich gut alimentiert sind, rechnen Niedriglohnempfängern die Peanuts vor, die sie gnädig empfangen dürfen, wenn’s zum Malochen nicht mehr reicht. Das beschämt.

Deutlicher lässt sich Ungerechtigkeit nicht mehr definieren. Deutschland ist keine Leistungsgesellschaft, sondern eine Empfängergesellschaft. Das ist selbst den Seeheimern nicht mehr einleuchtend, warum die eh schon gut Verdienenden vom Staat auch noch hoch dotiert in Pension geschickt werden, während die anderen vergeblich versucht haben, „Rentenpunkte zu sammeln“.

„Wir wollen endlich eine Rentenversicherung für alle. Zukünftig muss Schluss sein mit den Versorgungswerken aller Art. Es muss gelten: Alle zahlen in einen Rententopf ein und sichern die Rente für alle. Ebenso wie bei den Regelungen zum ALG I und II muss es auch bei der Rente heißen: wer viele Jahre hart gearbeitet und eingezahlt hat, muss mehr als nur die Grundrente bekommen.“

Und bei der Rente hört ja das Thema Gerechtigkeit nicht auf. Bei der Krankenversorgung geht es weiter.

„Das Konzept der Bürgerversicherung denken wir weiter. Unser mittlerweile teures Gesundheitssystem mit all seinen kleinen und großen Defiziten denken wir auf einem weißen Blatt Papier neu. Wir benötigen Anreize, welche die Gesunderhaltung der Menschen fördern.“

Das Papier bleibt nicht beim Sozialstaat stehen, thematisiert auch Klima- und Energiepolitik, aber auch das sträflichst vernachlässigte Thema ÖPNV: „Ebnen wir die Wege für eine konsequente Verkehrswende. Es braucht massive Investitionen für Schienenwege und in neue Züge. Eine Trennung von Netz und Betrieb lehnen wir ab. Die Bahn darf zudem zu anderen Verkehrsträgern nicht benachteiligt werden. Auf Bahnfahrten soll der verminderte Mehrwertsteuersatz gelten. Eine Fernbus-Maut muss eingeführt und Flugbenzin endlich besteuert werden.“

Am Ende geht’s auch noch um eine andere Friedens- und Außenpolitik. Man bekommt ein Gefühl dafür, auf welche schiefe Bahn die Bundesrepublik mit der unter Helmut Kohl begonnenen „neoliberalen Wende“ geraten ist, wie die Dysfunktionalität in alle Staatsbereiche eingezogen ist, Herden von teuren „Beratern“ die Ministerien geschwemmt haben, aber nichts, wirklich nichts in Ordnung gebracht haben, sondern nur den Einfluss gewinnorientierter Großkonzerne auf alle Politikbereiche vergrößert und verfestigt haben.

Und dabei auch gleich noch eine alte soziale Partei wie die SPD entkernt haben. So entkernt, dass dieses Papier der Seeheimer wirkt wie eine Wiederentdeckung jenes Kerns, den diese Partei mal hatte. Und dessen Fehlen sie seit Jahren zunehmend schlechter kaschieren konnte.

Das 2019er – Papier “Mut zu mehr” des Seeheimer Kreises (PDF) 

Wer hart arbeitet, gehört nicht in „Hartz IV“: Auch Martin Dulig begrüßt die SPD-Vorschläge für eine neue Sozialreform

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