Wahrscheinlich hatte Albrecht Kauffmann vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) ein bisschen Zeit übrig und hat sich hingesetzt und mal die Einwohnerentwicklung der ostdeutschen Städte durchgerechnet. Warum gerade jetzt, könnte man fragen. Die Bürgermeister wissen doch selbst, dass ihnen Einwohner abhanden gekommen sind. Aber am IWH sieht man die Welt ja bekanntlich durch die Standort-Brille.

Und im Jahr 2015 sind zumindest einige Städte im Osten Deutschlands wieder attraktiv geworden für Investoren. Nicht alle. 25 Jahre Aderlass haben in allen fünfeinhalb Bundesländern ihre Spuren hinterlassen. Aber irgendwie scheint man am IWH das Bedürfnis zu haben, den möglichen Investoren erst mal zu erklären, dass die Zahlen trügen. Ein bisschen zumindest.

“Die meisten ostdeutschen Städte hätten in den heutigen Gebietsgrenzen seit dem Jahr 1990 größere Bevölkerungsverluste erlitten. In einigen Städten wäre die Bevölkerung sogar geschrumpft anstatt zu wachsen. Bei einem bloßen Vergleich der von der amtlichen Statistik ausgewiesenen Einwohnerzahlen ist dies in vielen Fällen nicht erkennbar. Durch die Gemeindegebietsreformen kamen in vielen Fällen ehemals selbstständige Gemeinden zum Stadtgebiet hinzu. Diese territorialen Veränderungen wirken sich auch auf die Entwicklung der Einwohnerzahlen aus und sollten für einen aussagefähigen Städtevergleich berücksichtigt werden.”

Dass diese ganzen Gebietsreformen eher der Zahlenkosmetik dienten als einer echter Verwaltungsvereinfachung, diesen Eindruck haben ja Menschen, die seither im Osten ganze Wellen solcher Reformen erlebt haben, schon länger. Wer sich die Bilanzen der Bundesländer auf die möglichen Einspareffekte hin anschaut, findet diese nicht wirklich.

Das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) hat nun für 132 Städte Ostdeutschlands untersucht, wie sich deren Einwohnerzahl seit dem Jahr 1990 auf der Basis der aktuellen Gebietsgrenzen entwickelt hat.

In den Neuen Bundesländern ist die Zahl der Gemeinden vor allem infolge von Gemeindegebietsreformen seit dem Jahr 1990 von 7.613 auf 2.674 (Stand zum 31.12.2014) zurückgegangen. Nur 18 der 132 untersuchten Städte hatten bereits im Jahr 1990 ihre heutige Ausdehnung. Hierzu gehören z.B. Falkensee, Halle (Saale) oder Weißwasser/Oberlausitz. In allen anderen Fällen kamen zuvor selbstständige Gemeinden zum Stadtgebiet hinzu.

Als Folge dieser Gemeindegebietsreformen weist die amtliche Statistik ein größeres Einwohnerwachstum (bzw. einen geringeren Bevölkerungsverlust) aus, als nähme man die konstanten Gebietsgrenzen des Jahres 2013 an, stellt das IWH nun fest. Aber schauen Investoren tatsächlich ins Jahr 1990, um die Bevölkerungsentwicklung der Gegenwart zu erfassen? Wohl eher nicht. Wichtig sind die Zahlen der letzten Jahre.

Zahlenspiele haben auch ihren Reiz

“In 19 Fällen kehrt sich das amtlich ausgewiesene positive Bevölkerungswachstum in einen Bevölkerungsrückgang um, wenn in konstanten Grenzen gemessen wird”, stellt das IWH fest. “Zu diesen Städten zählen z. B. Bad Langensalza, Leipzig, Ludwigsfelde sowie viele Städte Sachsen-Anhalts, deren Territorium sich im Zuge der Gemeindegebietsreform von 2009 bis 2011 stark vergrößert hat.”

Leipzigs Flächenwachstum fand übrigens 1999 und 2000 statt, als Leipzig gleich mal 23 kleinere Orte und Ortsteile eingemeindete, was das Stadtgebiet praktisch verdoppelte.

In gewisser Weise hat Albrecht Kauffmann recht, wenn er feststellt, man müsse sich die tatsächliche Entwicklung der einstigen Kernstädte anschauen.

Dann wird auch sichtbar, wie heftig der Bevölkerungsverlust in den 1990er Jahren war, als auch Städte wie Leipzig praktisch eine komplette Generation junger Menschen verloren, die der besseren Arbeitschancen wegen in den Westen gingen. Dafür kann man die Einwohnerzahl von 1990, die mit 511.079 selbst schon rund 19.000 unter der des Vorjahres lag, mit der des Jahres 1989, dem Jahr vor der großen Eingemeindungswelle, vergleichen. Da hatte Kern-Leipzig nur noch 437.101 Einwohner, also binnen acht Jahren noch einmal 73.978 Einwohner verloren. Diese Differenz kann man von der Einwohnerzahl von 2013 abziehen, um zu sehen, wie groß die Lücke tatsächlich noch ist. Kauffmann kommt auf ein Minus von 4,6 Prozent. Das ist doppelt so hoch wie in Weimar. Dresden hat in dieser Zeit selbst in den Grenzen von 1990 einen Zuwachs geschafft.

2013 stehen zwar offiziell 531.562 Einwohner in der Statistik für Leipzig. In den Grenzen von 1990 kommt Leipzig im Dezember 2013 eben doch erst auf knapp 487.000 Einwohner, müsste noch rund 24.000 Einwohner dazugewinnen, um wieder den Bevölkerungsstand von 1990 zu errreichen. Dann gibt’s auch wieder das Bienchen aus Halle und Leipzig steigt in die U-förmige Gruppe auf, die seit 1990 gewachsen ist, also die Liga Jena, Potsdam, Dresden.

Wenn die Zuwachszahlen so anhalten, könnte das durchaus 2016 der Fall sein.

Eher beklemmend für die Leipziger ist dann die Frage:

Und wo sind die ganzen Wohnungen hin?

Es herrschte zwar Wohnungsknappheit – aber alle hatten irgendwie ein Dach über dem Kopf. Nun aber ist die Wohnungsreserve schon auf 20.000, wahrscheinlich 10.000 gesunken. 10.000 deshalb, weil rund 10.000 Wohnungen im Bestand zwar existieren – aber nicht saniert sind. Und unter den gegenwärtigen Förderbedingungen wohl auch nicht preiswert saniert werden können.

Die Einwohnerzahl, die Leipzig offiziell wieder erreichen müsste, um wieder auf 1990er Niveau zu sein, liegt übrigens bei 556.000 Einwohnern.

Die letzte offizielle Zahl stammt vom Juni 2014, da waren es 535.732. Im Dezember 2014 waren es also mit hoher Wahrscheinlichkeit 540.000. Das sind eher die Zahlen, die Investoren interessieren, denn sie zeigen, dass der Standort attraktiv ist und auch wieder in Teilen als Metropole funktioniert. Da geht man hin, wenn man heute Geschäfte machen will.

Auch wenn das IWH im Großen und Ganzen eher mürrisch kommentiert: “Die Bevölkerungszahlen der amtlichen Statistik spiegeln die demographische Entwicklung der Städte also nur bedingt wider, denn sie werden lediglich auf der Grundlage von Fortschreibungen und Volkszählungen zum jeweiligen Gebietsstand ermittelt. Die Einwohnerentwicklung ist ein wichtiger Indikator für die Beurteilung der Perspektiven einer Stadt, für die Wahl kommunalpolitischer Strategien und für Investitions- und Standort entscheidungen von Unternehmen.”

Das Schöne an diesen Perspektiven ist: Es gibt keine, die in die Vergangenheit weisen. Perspektiven weisen immer in die Zukunft.

Was Kauffmanns Tabelle aber zeigt, ist nun einmal die auseinanderklaffende Entwicklung in den ostdeutschen Regionen: In 19 Städten geht es eindeutig aufwärts. Darunter sind – nicht überraschend – die obligaten Wachstumskerne Berlin, Potsdam, Jena, Dresden und – auf Rang 13 – Leipzig. Und es sind einige Städte aus dem Speckgürtel der großen Städte dabei, die in den 1990er Jahren von der Suburbanisierung profitiert haben und heute als ruhige Sattellitenstadt gelten – wie Falkensee und Bernau, die irgendwie wie Gewinner an der Spitze der Tabelle stehen.

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