Immer weniger ALG-II-Empfänger, immer mehr Sanktionen. Wie geht das zusammen? Gar nicht, meint Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ). Alle Zahlen deuten darauf hin, dass jedes Jobcenter anders sanktioniert. Und besonders hart gehen augenscheinlich jene Jobcenter vor, die auch noch von ihren Kommunen zum Drücken der Zahlen verdonnert werden. Leipzig zum Beispiel.

Die Halbmillionenstadt landet 2014 unter den 394 erfassten Jobcentern auf den Rängen 32 bzw. 34, wenn es um die Zahl der Sanktionen pro Leistungsberechtigten geht. Den 34. Platz gibt es für die Zahl 2,84. Das ist die Zahl von Sanktionen pro sanktioniertem Leistungsberechtigten. Der Bundesdurchschnitt beträgt 2,27. Was bedeutet: Wenn Menschen im Jobcenter sanktioniert werden, bleibt es in der Regel nicht nur bei einer Sanktion, sondern im Schnitt werden es mehr als zwei. Schon das ein deutliches Zeichen, dass sich die Sanktionslust immer mehr auf wenige Betroffene konzentriert, die dafür um so öfter gemaßregelt werden.

Am häufigsten übrigens für Meldeversäumnisse.

73,8 Prozent aller Sanktionen entfielen 2014 im Bund auf reine Meldeversäumnisse. Die Bestraften erschienen also nicht zum Termin im Jobcenter oder bei der ihnen zugewiesenen Beschäftigungseinrichtung, oft genug einer reinen Beschäftigungstherapie, die – auch in Leipzig oft genug Praxis – zu nichts anderem dient als eine “Integration” zu erzeugen, selbst wenn der Vermittelte schon nach drei oder sechs Monaten wieder im Jobcenter aufschlägt. Oft genug ist dieser Reigen nichts anderes als die Kehrseite einer befristeten Lieferung von Arbeitskräften, die nach Kurzzeitverträgen postwendend wieder beim Jobcenter landen.

Dass das in Leipzig ein Hauptgrund für die steigende Zahl von Sanktionen ist, belegt die Zahl 84,6. Diese 84,6 Prozent der Leipziger Sanktionen wurden wegen Meldeversäumnissen ausgesprochen, deutlich mehr also als im Bundesdurchschnitt. So sieht dann die Kehrseite des amtlich angewiesenen “Kümmerns” aus: Wenn sich die Bekümmerten sträuben, den Anweisungen zu folgen, werden sie sanktioniert.

Wobei nicht nur in Leipzig augenscheinlich geglaubt wird, man müsse nur die Bandagen enger ziehen, um “Erfolge” zu erreichen. In Passau wurden sogar 4,06 Sanktionen pro Sanktionierten erreicht. Aber in den Jobcentern Nordsachsen ging es mit 2,86 ganz ähnlich “streng” zur Sache, in Dresden mit 2,75 nicht anders. Man kann sich zwar nach Jahren des Absinkens der Arbeitslosigkeit vermehrt um die eigentliche Problemgruppe des Arbeitsmarktes kümmern. Aber eindeutig bringen die alten, 2005 eingeführten Hartz-IV-Methoden nicht weiter. (Wobei immer noch offen ist, ob die steigende Kriminalitätsrate in Sachsen eben nicht nur mit Crystal Meth, sondern auch mit dem Anziehen der Sanktions-Bandagen zu tun hat. Denn: Wohin weichen die Sanktionierten eigentlich aus, wenn sie das Spiel nicht mehr mitspielen wollen?)

Den Platz 32 bekommt Leipzig in Schröders neuer Auflistung für die Zahl von Sanktionen je “Integration”. Dass das in der Regel keine wirklichen Integrationen in den Arbeitsmarkt sind, haben wir ja schon mehrfach an dieser Stelle analysiert. Aber sie geben zumindest eine Orientierung, was Jobcenter eigentlich auf der positiveren Seite ihrer Arbeit tun.

Und es wird ganz seltsam, wenn in den Jobcentern die Zahl der Sanktionen die Zahl der registrierten “Integrationen” übersteigt.

Dabei schaffen das nicht nur die Bundesländer Hamburg und Berlin, mehr Sanktionen zu verhängen als “Integrationen” nachzuweisen, wobei das Berliner Missverhältnis so groß ist, dass der gesamte Osten dadurch zahlenmäßig ins Minus rutscht. Auch Leipzig ist dabei.

Was zumindest den Verdacht nährt, dass besonders die Großstädte mittlerweile an der Grenze ihrer Möglichkeiten angekommen sind, den vor allem dauerhaft Erwerbslosen überhaupt noch menschenwürdige Integrations-Angebote machen zu können. Sie sind zwar in allen Regionen Deutschlands die eigentlichen Job-Maschinen. Aber die neuen Jobs – auch die in der Dienstleistungsbranche – verlangen in der Regel ein höheres Qualifikationsniveau und eine gehörige Portion Flexibilität. Was aber wird mit Menschen, die beides nicht (mehr) mitbringen?

In Leipzig geht der Abbau der Arbeitslosigkeit im Bereich von ALG II eindeutig an den älteren und längerfristig Arbeitslosen vorbei. Die “Helfer”-Jobs, die ihnen noch vor Jahren offen gestanden hätten, gibt es immer seltener. Und wenn es sie gibt, dann sind es meist die oben genannten befristeten Kurzzeit-Jobs, die oft genug auch recht kärglich honoriert werden, so dass die Betroffenen postwendend wieder im Jobcenter landen.

Jeder vierte Sanktionierte in Sachsen lebt übrigens in Leipzig. Von den 29.443 sanktionierten sächsischen “erwerbsfähigen Leistungsbeziehern” sind es 7.308 Personen oder 13,8 Prozent aller Leipziger “eLB”. Was sehr viel ist. Der Bundesdurchschnitt liegt bei 10,1 Prozent. In Leipzig wurden also auch überdurchschnittlich viele Leistungsbezieher sanktioniert, was Paul M. Schröder zu der Feststellung bringt, dass die Feststellung wohl nicht zutrifft, “dass die Sanktionspraxis der einzelnen Jobcenter auf einer einheitlichen, im gesamten Bundesgebiet geltenden rechtlichen Grundlage erfolgt”.

Irgendwie versucht jedes Jobcenter auf seine Weise, die betreuten “Kunden” mit mehr oder weniger Pression aus der Statistik zu bekommen. Und wer die “Zielvereinbarungen” des Jobcenters Leipzig und der Stadt Leipzig liest, sieht ja, dass es nicht um wirkliche Integration geht, sondern die ganze Zeit nur um das Senken der Zahlen und der Kosten. Das ist neoliberales Denken in Reinkultur – es bringt nur nichts.

Denn die “Erfolge”, die auf der anderen Seite gefeiert werden, laufen völlig an Arbeitsagentur und Jobcenter vorbei. Fast zwei Drittel der freien Stellen in Sachsen werden gar nicht erst an die Arbeitsagenturen gemeldet, sondern über andere Portale und Börsen veröffentlicht. Und wer wirklich eine Erwerbstätigkeit sucht, informiert sich dort – und wird auch nach wie vor bei vorhandenen Qualifikationen mit Kusshand genommen. Es ist der freie Markt selbst, der den Abbau der Arbeitslosigkeit (und den Aufbau der Erwerbstätigenzahl) bewirkt, nicht das emsige Sanktionieren der Jobcenter, die augenscheinlich wirklich nicht wissen, was sie mit all den Menschen anfangen sollen, bei denen sich die Vermittlungshemmnisse häufen.

Menschen, für die es eigentlich einen zweiten Arbeitsmarkt braucht. Aber just den haben die letzten ArbeitsministerInnen radikal zurückgestutzt.

Auch das bildet sich in der steigenden Zahl von Sanktionen ab.

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Es gibt 2 Kommentare

84,6% der Sanktionen betreffen sogenannte Meldeversäumnisse, die (noch) mit jeweils 10% Leistungskürzung vom REGELBEDARF erfolgen. Und nun raten wir mal, warum in der geplanten sogenannten Rechtsvereinfachung vehement speziell von CDU/CSU gefordert wird, dass diese Sanktionen künftig mit 30% erfolgen sollen. Im Gegenzug will man gnädigerweise die Sanktionen für unter 25jährige auf max 60% beschränken. Wohlgemerkt: vom Regelbedarf. Den zahlt die BA, also der Bund. Denke mal drüber nach, wer will.
Sanktionen bei U25 können sogar den Verlust der Wohnung bedeuten, wenn dann 3 Monate keine Miete mehr gezahlt wird. Da helfen dann Lebensmittelgutscheine auch nicht wirklich weiter, ohne Strom, Telefon und absehbarer Obdachlosigkeit.
Dass man dann mit Überleben zu tun hat und nicht auch noch freudestrahlend und mit fliegenden Fahnen zu seinem Peiniger rennt sollte verständlich sein.
Meldeversäumnisse sind nicht einfach Termin vergessen, verpennt, keinen Bock. Meldeversäumnisse entstehen auch, wenn die Post nicht ankommt, wenn man zu einem in der EGV “vorgeschlagenen” Gespräch bei einem Träger nicht hingeht, oder die in der EGV verordnete “Möglichkeit” zu einer Teilnahme an so putzigen Veranstaltungen nicht wahrnimmt. Zu “Möglichkeit” und “vorgeschlagen” liegt mir übrigens ein gar netter Beschluss eines SG vor.
Meldeversäumnis ist auch, wenn man krank ist, der Sachbearbeiter jedoch das nicht so recht glaubt und eine Wegeunfähigkeitsbescheinigung verlangt. Und wenn man die Krankschreibung nicht rechtzeitig im JC abgibt. Wie denn auch wenn man zB bettlägerig ist oder gar im Krankenhaus liegt? Bis man da wieder raus ist können schonmal Wochen vergehen und bis dahin ist man vielleicht gar mit einer Räumungsklage konfrontiert, weil das JC wegen fehlender Mitwirkung die Leistung komplett einstellt, inkl Miete und Krankenversicherung.

Wenn jemand suchtkrank ist und deswegen einen Termin nicht wahrnimmt, dann darf er dafür nicht sanktioniert werden, weil er krank ist. Wird aber trotzdem sehr gern gemacht, gerade bei diesen Menschen, die sich nun wirklich nicht wehren. Ebenso wie die sehr große Gruppe der psychisch Kranken, die im Laufe ihrer JC-Erfahrungen an Depressionen, Panik- und Angststörungen erkrankt sind. Die sich gar nicht mehr hintrauen. Die werden auch gern sanktioniert, die wehren sich ja auch nicht.

Und leider werden die Mittel für Bildungsmaßnahmen fast ausschließlich für die bereits eingekauften Sinnlosmaßnahmen verwendet, fast nie jedoch für wirklich zielführende Bildung, schon gar nicht für eine Ausbildung mit verwertbarem Abschluss.

“Sanktionslust”? …”es wird ganz seltsam, wenn in den Jobcentern die Zahl der Sanktionen die Zahl der registrierten “Integrationen” übersteigt”…warum?

Ich verstehe den Beitrag nicht. Bitte helft mir.
Aufgabe des Jobcenters ist nicht die Versorgung/Verwaltung von Arbeitslosen/unwilligen/unfähigen, sondern die Qualifizierung und Reintegration in den Arbeitsmarkt. Und die Tatsache, daß nicht alle Arbeitslosen hier aktiv (genug) mitarbeiten ist doch unstrittig, oder? Nun gilt es (im Rahmen der Erwachsenenbildung) Motivation für diese Menschen zu generieren. Und ja, da ist eine Sanktionierung eine wirksame, verhältnismässige und angebrachte Maßnahme.
Natürlich NEBEN einer intensiven Förderung durch Sozialarbeiter, Suchtberater etc. etc.
Der zweite Arbeitsmarkt ist keine Lösung. Er fördert Abhängigkeit, Unselbstständigkeit.

Weshalb sind in Leipzig mehr Sanktionen als anderswo notwendig/angebracht (oder sind die Mitarbeiter in Leipzig “strenger”/ “unfähiger” wie von Herr Julke unterstellt).
Dieser Fragestellung hat sich Herr Julke leider nicht angenommen, sondern diskriminierend unterstellt… Schade.

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