Wenn ein System für große Teile der Bevölkerung nicht funktioniert, muss man es reparieren. Das gilt auch für das Krankversicherungssystem. Immer mehr Sachsen rutschen in die Falle, zum Beitragsschuldner der Krankenkasse zu werden, weil es für prekäre Zeiten und Ausnahmesituationen keine Übergangsregeln gibt. Eine Pflichtsatzbemessung nach oft utopischen Beitragssätzen macht die Betroffenen zu Schuldnern. Und es werden immer mehr.

Das ergab jetzt eine entsprechende Anfrage der sozialpolitischen Sprecherin der Linksfraktion im Sächsischen Landtag, Susanne Schaper.

„Im Vergleich zu 2012 hat die Zahl der Beitragsschuldner bei der AOK Plus (Zusammenschluss der AOK Sachsen und AOK Thüringen) um über 60 Prozent zugenommen. Davon betroffen sind mittlerweile 48.058 Versicherte in Sachsen, die ihre Beiträge nicht pünktlich entrichten. Ursächlich ist nicht nur fehlende Zahlungsbereitschaft, wie der rasante Anstieg der Schuldnerzahl zeigt. Immer mehr Versicherte können die Beiträge aus finanzieller Not nicht zahlen“, stellt die Abgeordnete fest.

Zum Ende des vergangenen Jahres hatten die 69.757 Beitragsschuldner bei der AOK Plus, die zu zwei Dritteln aus Sachsen kommen, insgesamt mehr als 206 Millionen Euro Beitragsschulden angehäuft. Statistisch ergibt das pro Beitragsschuldner eine Schuld von fast 3.000 Euro.

Für Schaper ist das ein klares Versagen der deutschen Politik: „Der Sozialstaat versagt, wenn er es nicht einmal schafft, alle Bürgerinnen und Bürger zur Zahlung ihrer Krankenversicherungsbeiträge zu befähigen.“

Das „Beitragsschuldengesetz“ der Bundesregierung von 2013, nach dem gesetzlich Versicherte bei Beitragsschulden seit dem 1. August 2013 nur noch 1 % Zinsen monatlich auf die versäumten Beiträge zahlen müssen, also maximal 12 Prozent im Jahr, hat offensichtlich auch nicht zur Senkung der Schuldenlast geführt.

2010 betrug die Zahl der Beitragsschuldner bei der AOK Plus noch 32.348, 2011 waren es 36.664, ein Jahr später schon 42.125. Und das waren immerhin schon Jahre, in denen sich die Beschäftigungslage in Mitteldeutschland deutlich entspannte. Doch noch immer lagen die meisten neuen Jobangebote im Niedriglohnbereich: Die Betroffenen waren also oft gar nicht in der Lage, die aufgelaufenen Schuldbeträge in irgendeiner Weise abzustottern. Die meisten Betroffenen kamen logischerweise aus dem Niedriglohnland Sachsen: 29.523 der 42.125 Betroffenen waren Sachsen.

Insgesamt belief sich die aufgelaufene Schuldensumme damals auf 142 Millionen Euro.

2015 ist die Zahl der Beitragsschuldner bei der AOK Plus auf 69.757 angewachsen – sicheres Zeichen dafür, dass die wirtschaftliche Entwicklung an vielen Einwohnern von Sachsen und Thüringen völlig vorbei geht. Ihre Schuldenlast ist auf 206 Millionen Euro angewachsen.

Sozialministerin Barbara Klepsch versucht die Ursachen dafür, dass Menschen bei ihrer Krankenkasse in Schulden rutschen, sehr umständlich zu erklären: So sei ein Grund, die „obligatorische Einkommensüberprüfung wurde vom Mitglied nicht beantwortet. Die Einstufung erfolgte gemäß § 188 Abs. 4 SGB V daher in der Regel mit dem monatlichen Höchstbetrag von bis zu 667 EUR. Dieser Beitrag wurde vom Mitglied nicht entrichtet.“

Dass die 667 Euro von den üblichen Durchschnittseinkommen von 1.100 bis 1.200 Euro im Monat schlicht unbezahlbar sind, scheint für die verantwortlichen Politiker und die Krankenkassenbetreiber schlicht nicht vorstellbar zu sein.

„Im Versicherungsverlauf des Mitgliedes bestehende Versicherungslücken wurden zum Teil rückwirkend geschlossen und verbeitragt. Die fälligen Beiträge wurden nicht entrichtet“, führt Klepsch noch als Grund an. Was ja schlicht heißt: Die Einkommen – wenn die Betroffenen dann wieder Einkommen erzielen – reichen einfach nicht aus, um die aufgelaufenen Schuldansprüche zu bedienen.

Und: „Im Versicherungsverlauf des Mitgliedes bestehende Versicherungslücken zwischen zwei Zeiten des Arbeitslosengeld II-Bezuges wurden geschlossen und verbeitragt. Die Durchführung des Beitragseinzugs ist während des Arbeitslosengeld II-Bezuges jedoch nicht möglich.“

Was ja logisch ist. Denn Schuldendienst ist in den ALG-II-Sätzen überhaupt nicht vorgesehen.

Das ganze Versicherungssystem ist genau für jenes Feld, das mit der „Agenda 2010“ massiv ausgeweitet wurde, überhaupt nicht gedacht: Das ist der aufgeblasene Niedriglohnsektor mitsamt allen prekären Einkommens- und Beschäftigungsformen. Und die steigenden Fallzahlen zeigen, dass das Problem mit der wachsenden Beschäftigung überhaupt nicht vom Tisch ist. Im Gegenteil: Immer noch rutschen in Sachsen und Thüringen tausende Betroffene in die Beitragsschulden.

Und daran werde sich auch nichts ändern, wenn es nicht endlich so etwas wie eine Bürgerversicherung gibt, meint Schaper: „Wir werden die Staatsregierung auffordern, sich für eine Bürgerversicherung nach skandinavischem Vorbild einzusetzen. In sie zahlen alle Einkommensempfänger solidarisch und ohne Beitragsbemessungsgrenzen ein. Gleichzeitig müssen bezahlbare Sozialsicherungssysteme auch für Selbstständige ausgebaut, die Sanktionierung bei Hartz IV abgeschafft und der Regelsatz von Hartz IV angehoben werden.“

Antwort der Staatsregierung auf die Kleine Anfrage „Beitragsschuldner bei der AOK PLUS“ (Drucksache 6/4690)

Anfrage von Dietmar Pellmann zum selben Thema von 2012. Drs. 11391

Anfrage von Dietmar Pellmann zum Thema von 2011. Drs. 8171

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