Es geht Seltsames vor in Europa. Und das hat eher wenig mit dem Agieren der EU-Kommission in der Corona-Pandemie und ihrer Impfstoffstrategie zu tun. Aber viel mit großen Medien, die seit Wochen die „zögerliche“ Impfstoffbeschaffung kritisieren und den Leser/-innen ein Bild vermitteln, als wäre die EU praktisch unfähig, so eine Pandemie zu meistern. Eine europaweite Umfrage zeigt, dass die meisten Europäer diese Sichtweise überhaupt nicht teilen.

Und so geht es auch bei den anderen großen Plänen der EU für die nächste Zeit. Denn während (ja, ausgerechnet mit Ursula von der Leyen) endlich wieder Bewegung gekommen ist in die europäische Entwicklung, malen die deutschen Leitmedien Woche für Woche ein Bild von Unfähigkeit, Chaos und Dissonanz. Logisch, dass deutsche Leser/-innen zunehmend auf Distanz zur Politik gehen, wo ihnen doch jeden Tag das Bild einer hilflosen Politik gemalt wird.

Doch fast drei von vier Befragten (in der gesamten EU genauso 72 % wie auch in Deutschland) glauben, dass der Europäische Aufbauplan eine schnellere wirtschaftliche Erholung von den negativen Auswirkungen der Corona-Pandemie in ihrem Land ermöglichen würde.

Die Ergebnisse basieren auf einer Umfrage, die im Auftrag des Europäischen Parlaments zwischen November und Dezember 2020 vom Marktforschungsunternehmen Kantar durchgeführt wurde. Laut der am Freitagmorgen, 12. Februar, veröffentlichten Studie ist die Anzahl der Bürger, die sich positiv über die EU äußern, sogar noch um zehn Prozentpunkte im Vergleich zum Herbst 2020 gestiegen. Zwei Drittel (EU 66 %, Deutschland 72 %) aller Befragten sind optimistisch, was die Zukunft der Europäischen Union angeht.

Kommt die Wirtschaft nach dem Lockdown wieder auf die Füße?

Dennoch bleibt der individuelle Ausblick angesichts der anhaltenden Pandemie pessimistisch: Mehr als die Hälfte (EU 53 %, Deutschland 50 %) der Befragten glauben, dass die wirtschaftliche Situation in ihrem Land in einem Jahr schlechter sein wird als derzeit. Nur jeder fünfte Befragte (EU 21 %, Deutschland 26 %) glaubt, dass sich die nationale Wirtschaftslage im kommenden Jahr verbessern wird.

Mehr als die Hälfte der Befragten (EU 52 %, Deutschland 61 %) erwartet, dass ihre Lebensbedingungen in einem Jahr genauso sein werden wie heute. Ein Viertel der Befragten (EU 24 %, Deutschland 16 %) denkt, dass es ihnen in einem Jahr sogar schlechter gehen wird, während ein Fünftel (EU 21 %, Deutschland 22 %) glauben, dass sich ihre Lage verbessern wird.

Dementsprechend negativ ist nach dem Krisenjahr 2020 auch der Blick auf die persönlichen Finanzen. In Deutschland gab fast jeder Fünfte (Deutschland 18 %, EU 32 %) der Befragten an, dass sie während der letzten zwölf Monate die meiste Zeit oder gelegentlich Schwierigkeiten gehabt haben, ihre Rechnungen zu zahlen. Vor einem Jahr hatten nur 14 % (EU 28 %) so geantwortet.

Die Prioritäten in Europa verschieben sich

Diese verschiedenen Auswirkungen haben möglicherweise auch für die Forderung nach einer neuen politischen Top-Priorität unter den Bürgern gesorgt, betont der Pressedienst des Europäischen Parlaments. Beinahe jeder zweite Befragte (EU 48 %, Deutschland 43 %) möchte den Kampf gegen Armut und soziale Ungleichheit ganz oben auf der Agenda des Europäischen Parlaments sehen.

Dies ist die erste Priorität in allen EU-Mitgliedstaaten mit Ausnahme von Finnland, Tschechien, Dänemark und Schweden, wo der Kampf gegen Terrorismus und Kriminalität an erster Stelle steht. Im EU-Durchschnitt liegt der Kampf gegen den Terrorismus an zweiter Stelle (EU 35 %, Deutschland 38 %), gefolgt von einer hochwertigen Bildung für alle (EU 33 %, Deutschland 31 %) und dem Schutz unserer Umwelt (EU 32 %, Deutschland 37 %).

Um welche Grundwerte sollte es in der EU gehen?

Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich auch in der von den Bürgern angegeben Rangfolge von Grundwerten, die das Europäische Parlament verteidigen sollte. Während die weltweite Verteidigung der Menschenrechte (EU 51 %, Deutschland 61 %) und die Gleichberechtigung von Mann und Frau (EU 42 %, Deutschland 38 %) an der Spitze bleiben, landet die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten auf dem dritten Platz (EU 41 %, Deutschland 47 %). Vor einem Jahr hatten das im EU-Durchschnitt nur ein Drittel der befragten Bürger angegeben.

Die Pandemie und andere globale Herausforderungen wie der Klimanotstand bestärken die Bürger in ihrem Ruf nach einer grundlegenden Reform der EU. Fast zwei Drittel (EU 63 %, Deutschland 72 %) der Befragten wollen, dass das Europäische Parlament in Zukunft eine wichtigere Rolle spielt. Dies ist im EU-Durchschnitt ein Anstieg von 5 Prozentpunkten im Vergleich zum Herbst 2019.

Und während das positive Bild der EU zugenommen hat, ist auch der Ruf nach Veränderung gestiegen: Nur rund ein Viertel der Befragten (EU 27 %, Deutschland 33 %) unterstützen die EU so, wie sie derzeit besteht, während knapp die Hälfte (EU 44 %, Deutschland 49 %) die EU „eher unterstützen“, sich jedoch Reform wünschen. Rund ein Fünftel (EU 22 %, Deutschland 15 %) sehen die EU „eher skeptisch, könnten aber im Lichte einer radikalen Reform ihre Meinung wieder ändern“.

Hohe Zustimmung zur EU

In Deutschland befürworteten Ende 2020 81 % (EU 63 %) der befragten Bürger/-innen die Mitgliedschaft ihres Landes in der Europäischen Union. Im Vergleich zu der Studie aus dem Vorjahr bedeutet das einen Anstieg um 5 Prozentpunkte. Damals befanden „nur“ 76 % (EU 59 %) der Befragten die Mitgliedschaft Deutschlands in der EU als eine gute Sache. Und auch in die Zukunft der EU blicken die meisten Deutschen positiver als noch vor einem Jahr: Während Ende 2019 nur 38 % glaubten, die Dinge in der EU gingen in die richtige Richtung, ist die Zahl mittlerweile um 8 Punkte auf 46 % gestiegen.

Der Präsident des Europäischen Parlaments, David Sassoli, sagte dazu: „Die Botschaft dieser Umfrage ist klar: Die europäischen Bürger unterstützen die Europäische Union und sie finden, dass die EU der richtige Ort ist, um Lösungen für die Krise zu suchen. Aber eine Reform der EU ist eindeutig etwas, das die Bürger sehen wollen, und deshalb müssen wir die Konferenz zur Zukunft Europas so schnell wie möglich starten.“

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