Bei Tempo 30 wird es kindisch im Stadtrat. Jedes Mal, wenn das Thema in irgendeiner Form auf den Tisch kommt, wie am 16. April. Dabei hätte die Linksfraktion ihren Antrag „Tempo 30 vereinheitlichen“ gar nicht einreichen müssen. Denn die Stadt kann die Möglichkeiten, welche die im Dezember 2024 novellierte StVO ermöglicht, auch ohne so eine Aufforderung nutzen, wie sie die Linke formulierte. Anfangs tat sie das etwas missverständlich, weshalb es dann gleich zwei Änderungsanträge gab.

Dabei ist das, was die noch auf den letzten Drücker von der scheidenden Regierung auf den Weg gebrachte Änderung der StVO ermöglicht, nur ein schaler Kompromiss. Die Städte, die sich im Bündnis Lebenswerte Städte zusammengetan haben, fordern seit 2021 viel mehr, damit gerade in den Großstädten irgendwann wirklich die „Vision Zero“ möglich wird.

Das Mobilitäts- und Tiefbauamt schrieb in seiner Stellungnahme zum Linke-Antrag: „Die Verwaltung begrüßt die nunmehr auch veröffentlichte und damit in Kraft getretene Novellierung der StVO, auch wenn die 2021 auf Initiative von Leipzig gegründete Initiative Lebenswerte Städte und Gemeinden weitergehende Forderungen gegenüber dem Bund formuliert hatte.

Mit der novellierten StVO wird es den Straßenverkehrsbehörden u.a. erleichtert, Geschwindigkeitsbeschränkungen (Tempo 30) anzuordnen, insbesondere in Bezug auf Vorfahrtsstraßen, Spielplätze und viel genutzte Schulwege. Daneben wird der Abstand zwischen zwei bestehenden Geschwindigkeitsbeschränkungen, der für eine Harmonisierung der Geschwindigkeitsregelung und zur Verbesserung des Verkehrsflusses erforderlich ist, von höchstens 300 m auf nun bis zu 500 m verlängert.“

Mutmaßungen über stockende Verkehre

Aber bei Tempo 30 bekommen Autofahrer-Fraktionen die Panik und malen gleich Bilder von stockendem ÖPNV, lahmendem Wirtschaftsverkehr, Mehraufwand beim Personal und bei Fahrzeugen an die Wand, weil ja nun alle Fahrzeuge irgendwie viel langsamer unterwegs sind. Da wurden AfD-Stadtrat Tobias Keller und CDU-Stadtrat Andreas Nowak gleich zu kühnen Rechnern, auch wenn ihre aus dem Ärmel geschüttelten Hochrechnungen mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben.

Auch nicht in Leipzig, wo – wie selbst Nowak feststellte – im Berufsverkehr sowieso nur eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 23 km/h möglich ist. Aber nicht, weil überall Geschwindigkeitsbegrenzungen verhängt sind, sondern weil schlicht zu viele Verkehrsteilnehmer gleichzeitig unterwegs sind. Die auch dann nicht von der Hauptstraße auf die Nebenstraßen ausweichen, wenn dort zwischen den Ampeln Stop-and-Go herrscht.

Herr Tobias Keller (AfD) im Leipziger Stadtrat am 16.04.25. Foto: Jan Kaefer
Tobias Keller (AfD) im Leipziger Stadtrat am 16.04.25. Foto: Jan Kaefer

Auch wenn diese Behauptungen immer wieder wiederholt werden, wenn über Tempo 30 diskutiert wird, weichen Hauptstraßennutzer eben eher selten in Nebenstraßen aus. Weil die Hauptstraße nun einmal gerade für Pendler meist der direkteste Weg ist.

Ein bisschen mehr Sicherheit an Spielplätzen und Schulwegen

Was wollte die Linke mit ihrem Antrag eigentlich erreichen? Genau das, was das Mobilitäts- und Tiefbauamt (MTA) in seiner Stellungnahme auch formulierte: Die Umsetzung der in der novellierten StVO ermöglichten Ausweitung von Tempo 30 jetzt auch an Spielplätzen und an Schulwegen, beides sensible Strukturen, wo Kinder unterwegs sind.

Und FDP-Stadtrat Sven Morlok brachte es für die Freie Fraktion auf seine schöne nüchterne Art auf den Punkt: „Wo ist das höhere Rechtsgut?“, fragte er. Sind es spielende Kinder, die unverhofft auf die Straße rennen können, oder ist es der fließende Verkehr? „Wir entscheiden uns für die Kinder.“

Herr Sven Morlok (Freie Fraktion/FDP) im Leipziger Stadtrat am 16.04.25. Foto: Jan Kaefer
Sven Morlok (Freie Fraktion/FDP) im Leipziger Stadtrat am 16.04.25. Foto: Jan Kaefer

So entscheidet ein sachlich denkender Politiker. Den Änderungsantrag der Freien Fraktion zog er trotzdem zurück, denn der versuchte noch den Ursprungsantrag der Linken einzufangen, der noch eine sofortige Umsetzung der neuen Regelungen im ganzen Stadtgebiet gefordert hatte. In der Neufassung hatte die Linke dann die Formulierung der Verwaltung übernommen, die Möglichkeiten einer solchen Ausweisung im Einzelfall zu prüfen und sukzessive vorzunehmen.

Anders hätte das MTA auch gar nicht vorgehen können. „Die beantragte Prüfung aller neuen Regelungsweisen stadtweit und mit Vorlag eines Umsetzungsplans (bis Ende 2024) ist ausdrücklich nicht möglich. Für jeden Abschnitt muss auch nach der Novellierung der StVO weiterhin eine Einzelfallprüfung vorgenommen werden.

Diese können nur im Rahmen der gegebenen Ressourcen abgearbeitet werden, die vorrangig für bereits vom Stadtrat beschlossene Maßnahmen, z.B. aus den Lärmaktionsplänen und dem Rahmenplan zur Umsetzung der Mobilitätsstrategie, sowie das gesetzlich notwendige Handeln der Straßenverkehrsbehörde, einzusetzen sind“, schrieb es in seiner Stellungnahme.

Autos abschaffen? Warum nicht …

Richtig blamiert hat sich bei der Gelegenheit gleich noch BSW-Stadtrat Marco Zscherny, der am Mikrofon von der Gewöhnung von Autofahrern an Tempo-30-Zonen erzählte und damit irgendwie suggerierte, dann würde die Aufmerksamkeit sowie nachlassen. Wenn er mit seinem Auto tatsächlich so in der Stadt unterwegs ist, sollten schwächere Verkehrsteilnehmer tatsächlich sehr, sehr vorsichtig sein. Unerwarteten Beifall bekam er dann freilich für den so wohl nicht gemeinten Satz: „Natürlich können wir auch alle aufs Auto verzichten.“

Was soll man dazu sagen? Natürlich können wir das. Und umsteigen auf den ÖPNV, den Andreas Nowak gleich mal fantasiereich im Stau stecken sah.

Den CDU-Änderungsantrag, der den Ursprungsantrag praktisch ins Gegenteil verkehrt hätte, zog er freilich zurück. Danach hätte sich die Stadt eher um die Sicherung hoher Geschwindigkeiten wie Tempo 50 und Tempo 60 kümmern sollen. Weil auch aus seiner Sicht die Wirtschaft in Leipzig nur rollt, wenn alle zügig unterwegs sind. Die Gleichsetzung höherer Fahrgeschwindigkeiten in der Stadt mit wirtschaftlicher Produktivität ist eins der vielen Dauerargumente, die bei Tempo-30-Diskussionen auftauchen. Obwohl es durch nichts belegt ist. Außer durch das Gefühl der Autofahrer, immerzu am zügigen Fahren gehindert zu sein.

Der CDU-Antrag verwandelt sich nun, so Nowak, in einen normalen Antrag und wird demnächst wieder im Verfahren auftauchen.

Blieb also nur der Linke-Antrag, der die Stadt auffordert zu tun, was sie sowieso schon tut: Die Möglichkeiten der Ausweisung von Tempo 30 in sensiblen Straßenabschnitten sukzessive zu prüfen. Mehr war’s nicht. An der Fließgeschwindigkeit in der Stadt wird sich dadurch wohl kaum etwas ändern. Aber bei flotten Autofahrern geht’s da immer ums Prinzip, weshalb die drei Autofahrer-Fraktionen geschlossen gegen den Antrag stimmten. Das Ergebnis wurde entsprechend knapp: Mit 35:32 Stimmen erhielt der neu gefasste Antrag der Linksfraktion trotzdem die notwendige Mehrheit.

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Die kürzlich beschlossene und verkündete Verwaltungsvorschrift zur StVO konkretisiert das. Die Anordnung vom Tempo 30 wird nicht nur von der StVO erleichtert, sondern in der Verwaltungsvorschrift auch gefordert: “Innerhalb geschlossener Ortschaften ist die Geschwindigkeit im unmittelbaren Bereich von an Straßen gelegenen …, Spielplätzen, … in der Regel auf Tempo 30 km/h zu beschränken, …”. Gleiches gilt für übrigens entlang hochfrequentierter Schulwege.

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