LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug aus der Ausgabe 50Was jetzt in der sächsischen Demokratie-Diskussion hochkocht, war alles schon absehbar. Am 28. November hatte die sächsische Regierung ihren neuesten „Sachsen-Monitor“ vorgestellt. Ein Befragungsinstrument, das die SPD in der Regierung durchgesetzt hat. Denn schon 2014 – weit vor „Flüchtlingskrise“ und dem Debakel der sächsischen CDU bei der Bundestagswahl am 24. September – war klar, dass sich hinter dem „So geht sächsisch“-Märchen etwas zusammengebraut hatte, das mit einfachen „Wie toll arbeitet die Landesregierung“-Fragen nicht mehr zu fassen ist.

Solche Fragen dominierten in den Bürgerbefragungen der Vorgängerregierung und die Pressemeldungen aus der Staatskanzlei waren dann eine einzige Jubelarie auf die tolle Arbeit der Tillich-Regierung. Just jener Regierung, deren Chef am 12. Dezember 2017 zurücktrat, um am 13. Dezember die Wahl von Michael Kretschmer zum Ministerpräsidenten zu ermöglichen. Die erfolgte ziemlich knapp – nur 69 Abgeordnete stimmten für Kretschmer. Die Regierungskoalition aus CDU und SPD hat aber 77 Abgeordnete.

Das Problem mit Michael Kretschmer hat dabei nicht einmal der Juniorpartner SPD, der nun hofft, dass mit Kretschmer tatsächlich einmal eine lösungsorientierte Landespolitik gemacht werden kann – mit  einem echten Programm für die kaputtgesparte Bildungslandschaft und einer besseren Finanzausstattung für die Kommunen.

Die Frage ist eher: Ist Kretschmer einigen Hardlinern in der CDU rechts genug? Auch wenn er öffentlich versprochen hat, den konservativen Kurs der sächsischen CDU beizubehalten.

Aber genau dieser Kurs ist gegen den Baum gelaufen. Er hat zuallererst die AfD gestärkt und ihr am 24. September das stattliche Wahlergebnis zur Bundestagswahl verschafft. Und dieser Kurs hat dazu geführt, dass viele Haltungen „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ sich in all jenen Regionen besonders festgesetzt haben, in denen die konservativsten CDU-Verbände aktiv sind.

Politik und gesellschaftliche Haltungen sind erst einmal keine Vernunftfragen, sondern emotionale Fragen. Im Beitrag zum Interview der „Wochenpost“ 1996 mit dem Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer in der „Leipziger Zeitung“ (Nr. 50) gehen wir ja auf die tiefliegenden Ursachen für das kaum fassbare ostdeutsche Unbehagen ein. Es geht um so simple Dinge wie das Gefühl der Gleichwertigkeit, des Respektiertwerdens und der Anerkennung.

Wenn eine Gesellschaft den Wettbewerb zur zentralen Kategorie macht und fortwährend an den sportlichen Ehrgeiz ihrer Mitglieder appelliert und die Ellenbogen-Mentalität schürt, produziert sie zwangsläufig auch Verlierer. Für die Solidarität und den Zusammenhalt in einer Gesellschaft ist das katastrophal. Davon berichtet selbst die neueste, am 11. Dezember veröffentlichte Studie der Bertelsmann Stiftung zum gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Dort ist Sachsen Schlusslicht, gerade weil hier Dinge wie Integration und Diversität augenscheinlich nicht als stabilisierende Faktoren begriffen werden. Man ahnt, was für ein Denken dahintersteckt: Die Angst vor dem Unbekannten genauso wie die Angst, mit dem Neuen und Fremden nicht umgehen zu können.

Die meisten Bewohner Ostsachsens wurden und werden mit Migration überhaupt nicht konfrontiert. Und trotzdem äußern sie klare Gefühle der Überforderung. Denn aus nichts anderem speist sich Rassismus und der Wunsch nach einem „harten und energischen Durchgreifen“, egal ob gegen andere Länder oder im Landesinneren. Ein Gefühl, das die sächsische Regierung mit ihrem „energischen“ Innenminister Markus Ulbig (CDU) und einigen ebenso energischen CDU-Abgeordneten immer gepflegt hat.

Das ist die Kehrseite der sächsischen „Heimatverbundenheit“: das zur politischen Parole gewordene Misstrauen gegen alles Fremde und Neue und Unangepasste. Der forcierte Kampf von Politik, Polizei und Justiz gegen „alles, was links ist“ oder „linksextrem“ in der Diktion des Verfassungsschutzes gehört zu dieser Verteidigungshaltung: Brav und ordentlich ist nur, wer drinsitzt in der Burg und sich gegen die „Gutmenschen“-Anmaßungen wehrt.

Der wehrhafte Bürger ist der verschreckte Bürger.

Und er wird von irrealen Ängsten getrieben, die von einigen Medien auch noch lustvoll geschürt wurden. Denn die Umfrage-Ergebnisse aus dem Sachsen-Monitor 2017 kommen nicht von ungefähr. Denn wirtschaftlich geht es den Sachsen gut – nach eigener Aussage sogar besser als vor einem Jahr. Ihre persönliche Existenz ist nirgendwo bedroht. Und trotzdem ist ihr Leben voller Ängste: vor allem vor den Ausländern, die scheinbar die Bundesrepublik „überfremden“ (56 Prozent). Eine Tatsache, die die meisten Sachsen nur aus dem Fernsehen kennen. Die meisten leben tatsächlich in einer künstlichen Fernsehwelt.

In ihrer persönlichen Umgebung tauchen „Fremde“ fast nie auf. Ergebnis: Nur 15 Prozent der im August Befragten glauben, dass ihre persönliche Umgebung durch Ausländer „überfremdet“ sei. Das ist ein eklatanter Widerspruch, der mit realer Lebenserfahrung nichts zu tun hat. Aber wie das mit Ängsten so ist: Je diffuser die Bedrohung erscheint, umso größer ist die Angst. Und sie verkehrt sich in Abwehr. Gerade da, wo die Betroffenen glauben, dass sie nicht beschützt werden vor der imaginierten Bedrohung.

Nach einem „energischen Durchgreifen“ sehnen sich 62 Prozent der Befragten, wenn es um deutsche Interessen geht.

Das ist eindeutig ein medialer Reflex. Denn Medien berichten fast nur (noch) über starke Männer, energisch agierende Politiker, die die Welt mal mit starken Worten und Ankündigungen, mal auch mit rabiaten Lösungsmethoden beeindrucken. Das ist wie Berichterstattung über Wrestling oder Fußball: Die Suggestion, „starke Männer“ könnten die Probleme der Welt mit einem Schwertstreich lösen, ist zum dominierenden medialen Topos geworden. (Und das hat auch jede Menge mit der allgegenwärtigen Frauenfeindlichkeit zu tun.)

Was übrigens auch eine direkte Folge der um sich greifenden Entsolidarisierung in Politik und Medien ist. Kein anderer hat so offen vorgemacht, wie nah sich radikales Wettbewerbsdenken und Unfähigkeit zum Kompromiss sind, wie der FDP-Parteichef Christian Lindner. Ganz eindeutig hatte er nie das Ziel, mit Union und Grünen die Kompromisse auszuloten, mit denen man die nächsten vier Jahre hätte regieren können.

In seiner Welt gibt es diese Fähigkeit zum Kompromiss nicht mehr. Alles spitzt sich auf Sieg oder Niederlage zu. Ein Denken, das die ganze Wirtschaftswelt durchzieht und das auch das politische Denken in Deutschland okkupiert hat. Diese Kompromisslosigkeit fasziniert sogar die AfD. Dort würde man Lindner sofort zum Parteichef wählen.

Denn der Wesenskern der AfD ist dasselbe radikale Wettbewerbsdenken. In dieser Denkhaltung verachtet man Kompromisse. Hinter der Gestalt des „starken Führers“ steckt die Erwartung, mit radikalen Abgrenzungen mehr erreichen zu können.

Aber damit zerstört man die Grundlagen einer pluralen Gesellschaft. Stück für Stück. Heitmeyer hatte 1996 schon recht deutlich gemacht, welche Folgen das für den deutschen Osten hatte. Gelesen hat es von den wirklich Verantwortlichen kaum einer. Deswegen hat sich – ganz und gar keine Überraschung – die ostdeutsche Gesellschaft im Lauf der vergangenen 20 Jahre immer mehr der westdeutschen angeglichen. Das aussagekräftige Material dazu findet man in den „Mitte“-Studien der Leipziger Sozialpsychologen um Elmar Brähler. Da kann man regelrecht nachverfolgen, wie das radikale Wettbewerbsdenken mit dem Neodarwinismus der Rechtsextremen zusammenpasst. Es sind zwei Seiten einer Medaille. Und die Ostdeutschen sind – mal wieder – übers Ziel hinausgeschossen und agieren noch marktradikaler und rücksichtsloser als die Westdeutschen.

Was sich mit dem Gefühl verbindet, eh immer nur angemeiert zu sein. Ein Gefühl, das durchaus reale Grundlagen hat, wenn man die meisten Erwerbsbiografien und Einkommensverhältnisse der Ostdeutschen betrachtet. Wobei freilich auch auffällt, dass es nicht unbedingt die „Gelackmeierten“ sind, die rechtsradikalen Parteien ihre Stimme geben, sondern oft genug gut verdienende Männer in guten Positionen oder gar im Staatsdienst.

Die Vorurteile richten sich dann eben nicht nur gegen die (oft gar nicht vorhandenen) Ausländer, sondern in durchaus bedenkenswerter Breite gegen Homosexuelle (36 Prozent), Sinti und Roma (49 Prozent), Langzeitarbeitslose (43 Prozent) oder eben besonders Muslime (38 Prozent).

Alles Kategorien, mit denen der landläufige Sachse praktisch nie in Berührung kommt, wenn er nicht gerade Großstadtbewohner ist und einigen Menschen aus diesen Kategorien im Freundeskreis, in der Nachbarschaft oder am Arbeitsplatz begegnet.

Die Werte schwanken übrigens beträchtlich übers Jahr, was darauf hindeutet, dass das mediale Aufschäumen bestimmter Themen dafür sorgt, dass viele Fernsehzuschauer glauben, sich damit nun auseinandersetzen zu müssen. In Abwehr zumeist, denn meist geht es ja immer um ein stereotypes Dagegen oder Dafür. Selten geht es darum, dass gerade die Unterschiede den Reichtum der Menschheit ausmachen – und letztlich auch den Reichtum Sachsens. Und da ist man dann wieder bei einer Regierungspolitik, die immer vor allem auf Abgrenzung und Betonung des sächsischen Besondersseins gesetzt hat. Und die damit natürlich auch nicht erfüllbare Erwartungen geschürt hat bei Menschen, die gern einmal etwas Besonderes gewesen wären.

Das hätte man ihnen durchaus geben können, ohne diese Heimatseligkeit und (seit 2006 ganz forciert) die frisch aufgegossene Deutschtümelei, die den Menschen das Gefühl vermittelt, die Deutschen seien anderen Völkern „von Natur aus überlegen“. 15 Prozent stimmten dem Topos zu – 3 Prozent weniger als 2016. Klingt nicht nach viel. Aber 33 Prozent der rund 1.000 Befragten meinten, wer schon immer hier lebt, sollte mehr Rechte haben als jeder Zugezogene.

Man hat so einen angebrannten Geschmack auf der Zunge, wenn man diese Befragungsergebnisse liest. Da ist eine 27 Jahre gepflegte „Wir sind was Besseres“-Politik gründlich in die Hose gegangen und hat eine sehr schräge emotionale Gemengelage erzeugt.

Mal schauen, wann sich ein sächsischer Ministerpräsident traut öffentlich zu sagen: Nein, liebe Sachsen, ihr seid nicht besser als die anderen. Das ist Dünkel. Ihr seid genauso gut wie die anderen. Und das Beste macht ihr draus, wenn ihr lernt, andere als gleichwertige Kooperationspartner zu akzeptieren. Auch dann, wenn sie zu euch kommen und eure Fenster putzen, euren Müll von der Straße fegen, eure Autos reparieren und euch, wenn ihr alt seid, den Hintern abwischen.

Aber traut er sich?

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