Amerikaner, Franzosen, Briten, Russen, Iraner, Türken, Deutsche mindestens mit Aufklärungshilfe und Waffen: in den vergangenen Jahren gab es ein schreckliches Stelldichein in Syrien und es dürften noch nicht einmal alle Beteiligten genannt sein. Die Verwüstung des Bürgerkrieges und des Krieges gegen den IS haben aus dem Land eine zerrüttete Region mit allerlei Interessen und 400.000 Toten gemacht. Mittendrin die Kurden, hin und hergeworfen von den Wirren, welche sie gegen den IS stellten und ihrem Versuch einen eigenen, demokratischen Weg zu gehen. Erst unterstützt von den Westmächten, nun erneut auf der Flucht. Dieses Mal vor den türkischen Truppen.

Ob die derzeitige Waffenruhe bis Dienstag, 29. Oktober, hält oder nicht – die meisten Beobachter berichten von immer wieder aufflammenden Kämpfen. Ob die Mission „Verfassungskomitee“, also ganz am Ende des Weges wirklich demokratische Wahlen 2020 oder 2021, gelingen? Schon 2018 machte dieses Wort nach einem Treffen von Erdogan, Putin, Merkel und Macron die Runde, bis heute laufen die Versuche der UN, inklusive eines bevorstehenden ersten Treffens, alle gesellschaftlichen Kräfte Syriens an einen Tisch zu bringen.

Die Lage derzeit: Assad ist wieder fest im Sattel und kann sich Hoffnungen auf die Wiederkehr des syrischen Staates machen, derzeit sagen militärisch die Russen, wo es langgeht und mit der Türkei hat ein Nato-Mitglied unter Mitwirkung russischer Truppen die Grenzregionen besetzt. Ziel: man möchte eine Art entvölkerte Zone schaffen, um syrische Flüchtlinge dahin zu schicken, wo bislang vorrangig Kurden wohnten – ob es die geflohenen und hier wohnenden Menschen wollen oder nicht.

Unterdessen scheinen in diesem neuen Durcheinander nach Medienberichten bislang inhaftierte IS-Kämpfer befreit zu sein und Richtung Irak zu flüchten. Britische, französische und amerikanische Truppen haben sich zurückgezogen – auch ihr Ziel lautet offenbar Irak. Und Russland ist nicht erst seit diesen Tagen endgültig auf der Weltbühne der Großmächte zurück.

Fast scheint es, die ganze Welt liefere sich hier einen Schlagabtausch und Syrien ist nur die Arena.

Und die Kurden?

Fühlen sich im Stich gelassen in ihrem Wunsch nach einem eigenen Stück Heimat, in dem sie leben und sich selbst regieren können. Was sie die letzten Jahre taten. Am 17. März 2016 rief eine Versammlung kurdischer, assyrisch-aramäischer, arabischer und turkmenischer Delegierter die autonome Föderation Nordsyrien aus, damals bestehend aus den Kantonen Efrin (Afrin), Kobane und Cizere.

Es folgten basisdemokratische Wahlen in diesem nordsyrischen Gebiet, demokratische Strukturen entstanden. Bei den 2017er Kommunalwahlen wurden Männer und Frauen konsequent gleichgestellt als Doppelspitzen gewählt. All dies ist seit dem von der deutschen Bundesregierung als völkerrechtswidrig eingestuften Angriffs der Türkei in Gefahr, bereits hunderttausende Kurden sollen auf der Flucht sein, von 70.000 Kindern ist die Rede in den Medien.

Hält der Zustand an oder verschlimmert sich weiter, befürchten Beobachter auch erneut die weiterführende Flucht nach Europa, wie schon bei den vom Westen mit Waffen und Ausbildern unterstützten Kämpfen der Kurden gegen den IS. Erneut droht ihr Traum von einem eigenen Land namens „Rojava“ zwischen alle Fronten zu geraten. Die Türkei nennt sie „Terroristen“, die Westmächte scheinen sie für eine Verhandlungsmasse zu halten und einen eigenen Staat möchte ihnen niemand so richtig zugestehen.

„Rise up 4 Rojava“, welche als Soli-Bündnis auch zur heutigen Demonstration in Leipzig aufriefen, beschreibt die Lage so: „Die seit Jahren andauernde Kriminalisierung der Kurdinnen und Kurden, die Unterstellung von Terrorismus bei den kurdischen Freiheitsbewegungen und daraus resultierender Fahnen- und Vereinsverbote, macht eine aktive Demokratie-Arbeit fast unmöglich. Wir werden trotzdem weiterkämpfen, auf die Straße gehen und unsere Solidarität mit den revolutionären Kräften in Rojava demonstrieren!“

Die Demonstration am 26. Oktober in Leipzig

Neben der Besetzung des CDU-Bürgerbüros des MdBs Frank Heinrich in Chemnitz und der Blockaden der Check-In-Schalter von Turkish Airlines am Frankfurter und Stuttgarter Flughafen am Vortag versammelten sich nun am Nachmittag des 26. Oktober 2019 in Leipzig rund 250 Menschen am kleinen Willy Brandt Platz, um gegen die türkische Militäroffensive in Rojava zu demonstrieren. Neben einigen Unterstützern liefen am Samstag vor allem Kurden und deren Kinder über den Ring bis zum Marktplatz. In Solidarität mit den kurdischen Volksverteidigungseinheiten setzte sich der Demonstrationszug um 15:30 Uhr mit einigen Transparenten und Flaggen in Bewegung.

Neben den Sprechchören, in denen der türkische Präsident Erdoğan wütend und lautstark als „Faschist“, „Terrorist“ und „Mörder“ bezeichnet und mit der Terrormiliz IS gleichgesetzt wurde, kritisierten viele auch die deutschen und europäischen Verstrickungen in diesem Krieg durch Waffenexporte. Denn es sind deutsche Konzerne, welche „die Waffen für diese grausamen Taten herstellen und verkaufen.“, wie in einem Redebeitrag auf der Zwischenkundgebung erläutert wurde. Immer wieder skandierten die Demonstranten zudem lautstark „alle zusammen gegen den Faschismus“.

Anschließend führte die Route über den Ring bewusst zum Leipziger US-Generalkonsulat, da US-Präsident Trump durch den – nach langen Jahren des Hin und Her – schlagartigen Rückzug der in Nordsyrien stationierten Soldaten Anfang Oktober erst den Start von Erdoğans Operation „Friedensquelle“ möglich gemacht haben soll.

Doch längst steht auch die Frage im Raum, was in den vergangenen Monaten schiefgelaufen ist, da es keine Ideen aus Europa gab, anstelle der US-Soldaten das autonome kurdische Gebiet zu schützen. Vor allem jetzt, wo das „Verfassungskomitee“ bald erstmals zusammentreten soll.

Vor dem Erreichen des US-Konsulats wurde der Protest zusätzlich an der Ecke Wilhelm-Seyfferth-Straße/Beethovenstraße in der Höhe der Albertina Bibliothek von rund 50 Studenten spontan unterstützt (siehe Video).

Die Demonstration, zu der das Rojava Soli Bündnis Leipzig und der Verband der Studierenden aus Kurdistan (YXK) aufriefen, endete nach zirka drei Stunden auf dem Leipziger Marktplatz. Zu Auseinandersetzungen kam es dabei, anders als in Dresden, nicht.

Denn nahezu zeitgleich zur Leipziger Demonstration waren auch in Dresden über 500 Unterstützer der Kurden auf die Straße gegangen. Im Gegensatz zur friedlichen Demonstration in Leipzig hatten sich in der sächsischen Landeshauptstadt laut MDR (hier geht es zum Video) rund 70 Dynamo Dresden-Hooligans am dortigen Hauptbahnhof zusammengefunden und versucht die Demonstration der Rojava-Unterstützer zu stören.

Angesichts dieser Konstellation in Sachsen bleibt wohl die Frage, was deutsche Rechtsradikale mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan verbindet. Es dürften die gleichen Muster sein.

Mehr Infos unter: https://riseup4rojava.org/de/startseite/

Impressionen von der Demonstration und Redebeiträge am 26.10.2019 in Leipzig

Video: L-IZ.de

Bildergalerie vom 26. Oktober 2019 (Fotos: Michael Freitag)

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