War da noch was? Ach ja: 30 Jahre Deutsche Einheit. Dieses Fest ist ja aus Corona-Schutz-Gründen ins Wasser gefallen. Und auch ein geplanter Höhepunkt fand dann am 3. Dezember recht unspektakulär statt. Nach knapp 18-monatiger Beratungszeit hat die Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“ ihren Abschlussbericht vorgestellt.

Die Kommission wurde vor über einem Jahr von Bundeskanzlerin Angela Merkel aus der Taufe gehoben, um das dritte große ungelöste Problem in ihrer Amtszeit zu lösen. Und dazu holte sie sich mit Matthias Platzeck, dem ehemaligen Ministerpräsidenten von Brandenburg, einen Mann ins Boot, der sich mit solchen schwierigen Dingern schon auskennt, denn er hat auch die Atomausstiegs- und die Kohleausstiegskommission mit geleitet.

Und hier ging es ja darum, zwei zerstrittene Geschwister an einen Tisch zu bekommen und hinterher wirklich einen Ansatz zu haben, die deutsch-deutsche Zerrissenheit irgendwie zu kitten.

„Auch im nun beginnenden vierten Jahrzehnt der Deutschen Wiedervereinigung müssten die innerdeutschen Gespräche fortgesetzt werden“, betonte die Pressestelle der Bundesregierung dazu in deutlich zurückhaltendem Ton.

„Außerdem fordert das Gremium ein ,Zukunftszentrum für europäische Transformation und Deutsche Einheit‘, außerdem dürften SED-Unrecht nicht vergessen und müssten dessen Opfer angemessen gewürdigt werden. Die Kommissionsmitglieder schlagen vor, den 9. November als neuen Nationalen Gedenktag zu begehen. In würdiger Erinnerung an die Demonstration 1989 in Leipzig sollte der 9. Oktober als ,Tag der Demokratie‘ gefeiert werden.“

Der Abschlussbericht wurde Bundeskanzlerin Angela Merkel, Bundesinnenminister Horst Seehofer und Bundesfinanzminister Olaf Scholz bei einem digitalen Treffen am 3. Dezember übergeben. Mit der Veröffentlichung des Berichts beendete die Kommission ihre Arbeit.

Aber noch wichtiger ist das von Platzeck besonders gewünschte Projekt: „Einrichtung eines ,Zukunftszentrums für europäische Transformation und Deutsche Einheit‘.“

Matthias Platzeck: „Ostdeutschland braucht einen Knotenpunkt für die Debatte über den richtigen Weg unserer Gesellschaft in die Zukunft. Das Zukunftszentrum soll erforschen, wie gesellschaftliche Umbrüche gelingen können.“ Für Matthias Platzeck ist der Osten Deutschlands eine Region mit Perspektive und Zukunft. Der Umbruch im Osten habe Spuren hinterlassen, doch die Menschen in Ostdeutschland könnten stolz auf ihre in den letzten 30 Jahren gemachten Erfahrungen und Kompetenzen sein.

Deswegen ist sein Satz eigentlich falsch, denn auch der vorgelegte Bericht zeigt ja, dass die nun seit 30 Jahren gepflegten Erzählungen über den Osten nicht stimmen – nicht die Schönwettergeschichten des Westens und auch nicht die Trauergeschichten des Ostens. Der die Kommission in einer Umfrage übrigens auch mit der Feststellung überraschte, dass sich 77 Prozent der Ostdeutschen auch ganz selbstverständlich als Ostdeutsche empfinden.

Das ist schon ein Selbstbewusstsein, das man einfach mal akzeptieren muss – und das wenig mit der alten DDR zu tun hat. Denn zusammengeschweißt haben vor allem die großenteils harten und psychisch belastenden Erfahrungen im Anpassungsprozess ab 1990.

Was selbst Marco Wanderwitz, Ostbeauftragter der Bundesregierung und stellvertretender Vorsitzender der Kommission, laut „Zeit“ so ausdrückt: „Die Wiedervereinigung ist gelungen, allerdings war es eine sehr schmerzhafte, langwierige Zangengeburt.“

Was eben auch von CDU-Seite schon ein Eingeständnis ist, dass es mit den geschenkten „blühenden Landschaften“ von Helmut Kohl wohl doch nichts war, sondern die Ostdeutschen größtenteils allein alle Zumutungen des Transformationsprozesses auszuhalten hatten. Und zwar bis heute. Denn auch die „Angleichung der Lebensverhältnisse“ binnen 15 Jahren, wie von Helmut Kohl noch prophezeit, trat so nie ein. War auch nie realistisch, nachdem 90 Prozent der ostdeutschen Industriebetriebe „abgewickelt“ worden waren und der ostdeutsche Landesteil damit die Grundlagen verlor, die Transformation aus eigener Kraft zu stemmen.

So etwas geht ganz direkt an das Selbstverständnis, die Früchte der eigenen Arbeit zu ernten. Denn das entsteht erst, wenn Menschen das Gefühl haben, sich aus eigener Kraft aus dem Schlamm ziehen zu können. Und für ihre Anstrengungen auch belohnt zu werden – oder zumindest anerkannt. Wozu – so Platzeck – nun einmal auch eine anteilige Vertretung in sämtlichen Leitungsgremien gehört. Aber selbst in Ostdeutschland liegen die meisten wichtigen Leitungsfunktionen noch immer in den Händen von Westdeutschen, die in der Regel auch ihre gewachsenen Netzwerke nutzen, um sich ihren eigenen Nachwuchs aus West- oder Süddeutschland heranzuholen.

Ostdeutsche Netzwerke in dem Sinn gibt es nicht mehr, denn auch sie wurden mit dem großen „Elitentausch“ ab 1990 abgewickelt. Und manches, was einfach wie eine nüchterne Abrechnung mit der DDR und ihren alten Kadern aussah, sieht im Nachhinein wie eine regelrechte Übernahme aus, bei der meistens nur noch der übliche „Quotenossi“ mit am Tisch sitzt.

Das von Platzeck gewünschte Zukunftszentrum wäre also ein Ort, auch einmal in aller Sachlichkeit zu untersuchen, wie die Transformation im Osten eigentlich gelaufen ist, was man als Erfolg und Erfahrung verbuchen kann und wo man fast zwangsläufig Fehler gemacht hat, weil noch nie ein Land in der Welt so einen Umbau einer ganzen Wirtschaft und Gesellschaft bewerkstelligen musste.

Und da steht dann auch die Frage im Raum: Kann es sein, dass der westdeutsche Ansatz, den Osten nach Schema F zu privatisieren, ganz Deutschland auch die Chance genommen hat, den Zuwachs durch die Ostdeutschen als Bereicherung zu empfinden und den Prozess tatsächlich gemeinsam zu gestalten und zu korrigieren?

Denn dass 77 Prozent der Ostdeutschen mittlerweile ein derart ausgeprägtes Gefühl einer großen Gemeinschaft haben, ist ja kein Negativum, sondern zeigt, dass da trotz allem ein Selbstbewusstsein entstanden ist, das sich im Konzert der deutschen Befindlichkeiten sehr wohl eigenständig behaupten möchte. Und auch wird. Davor brauche man sich nicht zu fürchten, so Platzeck.

Vielmehr kann man davon profitieren, dass man es endlich ernst nimmt und ostdeutsche Erfahrungen auch als Erfahrungsschatz wahrnimmt. Denn transformieren muss sich auch der Westen. Eigentlich jedes Land, das nicht irgendwann zum rückständigen Museumsstück werden will. Etliches, was der Osten schon durchgemacht hat, steht auch noch dem Westen bevor.

Und eigentlich ist der Osten nach wie vor ein mögliches Experimentierfeld, um neue Wege in eine nachhaltige Zukunft auszuprobieren. Natürlich nicht wieder mit westdeutschen Projektleitern, die ostdeutschen Leiharbeitern sagen, wo es langgeht. Das geht nur gemeinsam und auf Augenhöhe. Und sogar ostdeutsche Projektleiter dürfte man heutzutage leicht finden. Man muss sie nur akzeptieren und aufhören mit diesem unterschwelligen: „Ach, Sie kommen aus Bautzen?“

Ein Vorurteil, das übrigens auch mit der ungenügenden Sorgfalt der deutschen Fernsehstationen zu tun hat. Auch das benennt Platzeck. Denn das Wörtchen „einseitig“ für die Berichterstattung der großen Rundfunkanstalten über den Osten beschreibt das Problem noch sehr vorsichtig. Aber wenn sich ein kompletter Landesteil in dem, was ARD und ZDF darüber zu berichten haben, nicht wiedererkennt, ist was faul in den Sendeanstalten.

Und da geht es nicht um Lobeslieder auf den Osten, sondern um das, was den nach wie vor gut finanzierten Sendern so schwerfällt (weil sie es großenteils auch schon outgesourct haben): journalistische Basisberichterstattung über das ganze Land – und zwar nicht nur, wenn mal wieder Nazis oder Querdenker demonstrieren.

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