Verkehr ist ja eines der großen Streitthemen in Leipzig: Mehr ÖPNV? Mehr Radverkehr? Oder doch mehr Platz für den Wirtschaftsverkehr? - Nicht alles lässt sich messen. Nicht alles, was sich messen lässt, wird auch verraten. Obwohl es oft Zahlen sind, mit denen man ursprünglich um Zustimmung von Volk und Abgeordneten warb.

Das betrifft auch das Mitteldeutsche S-Bahn-Netz. Zum einjährigen Geburtstag im Dezember vermeldeten die Deutsche Bahn (die die S-Bahnen betreibt) und der Zweckverband Nahverkehr Leipzig (ZVNL) den durchschlagenden Erfolg dieses Mega-Projekts, das irgendwo um die 1 Milliarde Euro gekostet hat. Eine Investition, die sich gelohnt hat. 55.000 Fahrgäste pro Tag bedeuten aufs Jahr gerechnet 20,7 Millionen Fahrgäste.

Wie viele davon wieder von Bus und Straßenbahn auf die S-Bahn umgestiegen sind, hat bislang niemand beziffert. Dass es ein paar Millionen sein müssen, war zu erwarten. Denn noch 2013 haben die Leipziger Verkehrsbetriebe (LVB) Schienenersatz für die Bahn gefahren (etwa auf der Strecke Connewitz – Markkleeberg) und sie haben zwei Jahre Komplettstreichung der S1 nach Grünau aufgefangen.

Dass die Inbetriebnahme des S-Bahn-Netzes ihre Zahlen gedrückt hat, ist auch im neuen Quartalsbericht der Stadt nachlesbar: Von 142 Millionen beförderten Personen sank die in Bahnen und Bussen transportierte Passagierzahl binnen Jahresfrist auf 136 Millionen. Das hatten die LVB auch so angekündigt. Und nicht nur das S-Bahn-Netz ist der Grund dafür. Nur auf eine Frage wollte das Unternehmen noch nicht antworten: Auf welchen Linien sind die Leute denn nun umgestiegen?

Immerhin wird ja jetzt seit einer Woche wieder intensiv über die Einstellung der Straßenbahnlinie 9 nach Markkleeberg-West diskutiert. Um 25 bis 29 Prozent sollen die Passagierzahlen gesunken sein, weil die Markkleeberger mit der S-Bahn nun deutlich schneller nach Leipzig einfahren können. Ein schöner Vorwand, endlich eine Strecke abzuklemmen, die den heutigen Vorschriften der Bahn nicht mehr genügt, nach denen die Straßenbahn die Gleise der Eisenbahn nicht mehr ebenerdig queren darf. Aber in der Zeit des Berufs- und Schulverkehrs ist die Linie 9 nach wie vor rappelvoll. Zu viele Ziele liegen an der Strecke, die die beschleunigte S-Bahn gar nicht anfährt. Und mit Recht fragt man sich, warum die Chance nicht ergriffen wird, mit der Linie 9 nicht endgültig den Westen Markkleebergs und den Cospudener See zu erschließen.

Gute Verknüpfungen der verschiedenen Netze haben die Nutzungsgewohnheiten der Fahrgäste verändert. Im Bild der im Dezember 2013 in Betrieb genommene S-Bahnhof Markkleeberg. Foto: Patrick Kulow
Gute Verknüpfungen der verschiedenen Netze haben die Nutzungsgewohnheiten der Fahrgäste verändert. Im Bild der im Dezember 2013 in Betrieb genommene S-Bahnhof Markkleeberg. Foto: Patrick Kulow

Dabei ist durch die Inbetriebnahme des S-Bahn-Netzes nichts passiert, was die Planer so nicht erwartet hätten. Dass jetzt auf politischer Ebene wieder die Notlösung Bus überdacht wird, zeigt im Grunde, dass in der Ortsgrenzen übergreifenden ÖPNV-Planung in und um Leipzig nicht viel zusammen gedacht wird. Die alten Bretter vorm Kopf sind auch die neuen.

Dabei ist die Verknüpfung von S-Bahn-Netz und Liniennetz der LVB gelungen, vermeldet Unternehmenssprecher Marc Backhaus: “Insgesamt betrachtet stärkt das Mitteldeutsche S-Bahn-Netz den Öffentlichen Personennahverkehr in der Region. An den Schnittstellen zwischen den Netzen spüren wir diese Effekte und hoffen, dass noch mehr Menschen auf den ÖPNV umsteigen und das gute Angebot des Mitteldeutschen Verkehrsverbundes und damit der LVB nutzen. Dies wird unter anderem durch die überdurchschnittlich gestiegenen ABO-Zahlen bestätigt. Seit Einführung des neues MDV-Tarifsystems verzeichnen die LVB einen Anstieg der Abonnements um 10 Prozent. Darüber hinaus gilt seit Oktober 2014 für alle Uni-Studenten das Semestervollticket.”

Das verknüpfte System funktioniert also. Und ein Teil der LVB-Fahrgäste ist sichtlich im S-Bahn-Netz gelandet.

Vermutet werden kann, dass das neben der Linie 9 auch die nach Grünau fahrenden Linien 1, 2 und 15 betrifft. Denn hier fährt ja nun wieder die S1 im Halbstundentakt. Aber die Linienzahlen mag das Leipziger Verkehrsunternehmen einfach noch nicht verrraten.

Marc Backhaus: “Die Leipziger Verkehrsbetriebe (LVB) GmbH haben, wie erwartet, im Vergleich zum Rekordjahr 2013 weniger Fahrgäste befördert. Ausführliche und detaillierte Erläuterungen werden wir im Rahmen der Bilanz-Pressekonferenz vorstellen und kommentieren. Zur bereits jetzt zu sehenden Tendenz können wir aber schon jetzt einiges sagen: Dass es zu Verschiebungen, aber auch zu einer Stärkung innerhalb des ÖPNV-Systems kommt, haben die LVB erwartet und wir haben uns deswegen darauf eingestellt.”

Die LVB benennen gleich mehrere Sondereffekte, die zum Rückgang der Fahrgastzahlen geführt haben.

Einer ist sogar bezifferbar: Im Dezember 2013 gaben die LVB einen Teil ihres Regionalverkehrs im Leipziger Südraum an andere Verkehrsunternehmen ab. Allein dadurch fielen etwa 1,5 Millionen Fahrgäste pro Jahr auf 15 Buslinien weg.

Der zweite sind natürlich die wegfallenden Schienenersatzfahrten: Seit Eröffnung des City-Tunnels und damit der Inbetriebnahme des Mitteldeutschen S-Bahn-Netzes erbringen die LVB weiterhin keine Ersatzleistungen für die Deutsche Bahn mehr, wie für die S-Bahn-Linie S1 nach Grünau, die durch den City-Tunnel wieder ans Netz ging.

Und ein weiterer Grund liegt, wie bei anderen Verkehrsbetrieben, im relativ milden Winter 2013/2014. Meteorologisch war 2014 das zweitwärmste Jahr seit Beginn der Temperaturaufzeichnungen in Leipzig. Eine These, die sich zumindest ansatzweise durch den Verlauf der Fahrgastzahlen im Lauf des Jahres 2014 stützen lässt:

Im ersten Quartal (Januar bis März) lag die Differenz zum Vorjahresquartal bei 1,7 Millionen Fahrgästen.

Im zweiten Quartal (März bis Juni) lag diese Differenz bei 3 Millionen, möglicherweise Zeichen dafür, dass viele Fahrgäste aufs Fahrrad umgestiegen sind.

Im dritten Quartel (Juli bis September) war die Differenz auf knapp 200.000 geschrumpft, im letzten Quartal dann aber wieder auf 1,2 Millionen gestiegen. Ein Phänomen, das möglicherweise sogar direkt durch den City-Tunnel erklärbar ist, denn im Weihnachtsgeschäft 2013 kam er noch kaum zur Wirkung, ein Jahr später schon.

“Konkrete Zahlen nach Linien gibt es nicht, jedoch ist ein Fahrgastrückgang auf Linie 9 durch einen parallelen Linienverlauf zur S-Bahn in Markkleeberg spürbar. Dies wird derzeit durch die beiden Aufgabenträger für den öffentlichen Personennahverkehr, Landkreis und Stadt Leipzig diskutiert”, so Marc Backhaus.

Da kann man nur hoffen, dass diese Diskussion nicht wieder hinter verschlossenen Türen stattfindet, sondern die Leipziger und Markkleeberger mitdiskutieren können und eine sinnvolle Lösung gefunden wird.

Denn auch die Parkplatzprobleme in Markkleeberg hängen mit der seit nunmehr 15 Jahren grimmig ignorierten Frage zusammen, wie man das Neuseenland vernünftig mit dem (Leipziger) ÖPNV verknüpfen kann. Diskussionen gab es schon einige. Lösungen bislang noch keine.

Den Statistischen Quartalsbericht bekommt man für 7 Euro in gedruckter Form beim Amt für Statistik und Wahlen.

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“Konkrete Zahlen nach Linien gibt es nicht.” ?? Natürlich haben die LVB liniengenaue Zahlen. Geht ja fast gar nicht anders, wenn man Fahrgastzählungen und Zählwagen einsetzt.

Dass die Fahrgastzahlen bei den LVB nicht mit dem Einwohnerwachstum einhergehen, sondern hinterherhinken, liegt nicht nur am City-Tunnel und an den definitiv überhöhten Preisen, sondern auch am für eine Halbmillionenstadt(!!!) geradezu grottigen Fahrangebots, welches jegliche Fahrgastnachfrage geradezu ausbremst. Die “zusätzlichen” Fahrtmöglichkeiten durch den City-Tunnel wirken überhaupt nicht wie eine “Verdoppelung” eines vorher bestehenden Angebots, sonder sind geradezu ein Segen für Leipzig. Einen großen dicken DANK an die vorausschauenden Politiker in den 1990ern, die das Tunnelprojekt eingefädelt haben!

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