Als der Stadtrat am 15. Mai über den Antrag zum 365-Euro-Jahresticket diskutierte, wurde auch das im September 2018 beschlossene Nachhaltigkeitsszenario für den ÖPNV zum Thema. Denn beides gehört zwingend zusammen. So sahen es ja selbst die FDP-Stadträte, die freilich die Absetzung des 365-Euro-Beschlusses beantragten, damit die Stadt sich auf das Nachhaltigkeitsszenario konzentrieren kann. Oder besser: soll.

Denn wenn Stadt und LVB bis 2023 die ersten Weichen für ein leistungsfähigeres Nahverkehrsnetz gestellt haben wollen, müssten jetzt die ersten konkreten Zahlen auch für den Stadtrat auf den Tisch. Welche Finanzierungen werden wann gebraucht?

Worauf auch Heiko Oßwald zu sprechen kam, der für die SPD zum 365-Euro-Ticket sprach – aber eben eher kaum zum Ticket selbst. Denn er hat so das Gefühl, dass es 2021 noch nicht eingeführt werden kann: „Das Ticket wird aus Sicht meiner Fraktion sicherlich nicht schon 2021 kommen und es ist nicht allein durch die Stadt finanzierbar. Aber mehr und mehr setzt sich auch in Berlin und Dresden die Erkenntnis durch, dass die Klimaziele und die verkehrlichen Probleme in Großstädten nur durch eine massive Stärkung des Umweltverbundes möglich sind. Die Fördermittelsätze für Investitionen steigen (z. B. für Bahnen von 50 auf 90 Prozent), immer mehr Modellregionen für nachhaltige Mobilität werden gefördert. Und wenn sich diese Fördermittelkulisse durch Bund und Land deutlich verbessert, dann gewinnen wir auch Handlungsspielräume, um ein bezahlbares Jahresticket in Leipzig einzuführen. Damit deutlich mehr Menschen vom Auto auf den ÖPNV umsteigen und diejenigen, die auf das Auto angewiesen sind, weiterhin gut durch die Stadt kommen.“

Deswegen standen im Prüfauftrag für die Verwaltung ja auch drei Jahreszahlen, für die eine Einführung des 365-Euro-Jahresabos geprüft werden sollte: 2021, 2024 und 2027.

Die beiden späteren Termine fallen in eine Zeit, in der nach dem im September beschlossenen Nachhaltigkeitsszenario schon die ersten Verbesserungen im Nahverkehrsnetz greifen sollten.

„In Leipzig haben wir mit dem Beschluss über das Nachhaltigkeitsszenario im September letzten Jahres die richtige Antwort gegeben, um den verkehrlichen Herausforderungen einer wachsenden Stadt zu begegnen und einmütig die Weichen in Richtung nachhaltige Mobilität gestellt. Wir werden viel mehr als bis jetzt in neue und bessere Fuß- und Radwege investieren und wir werden den ÖPNV deutlich attraktiver machen. Durch engere Taktzeiten, Haltestellenverdichtungen, Erhöhung von Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit der Bahnen und Busse sowie mehr Sauberkeit und Sicherheit im ÖPNV. Mit diesen Angebotsverbesserungen wollen wir die Fahrgastzahlen von 165 Millionen auf 220 Millionen steigern und damit den Anteil des ÖPNV am Gesamtverkehr von 18 auf 23 Prozent erhöhen“, betonte Oßwald.

Und er legte damit auch den Finger in die Wunde: „Aber ob diese ambitionierten Ziele, auch angesichts eines geringeren Bevölkerungswachstums, allein durch Angebotserweiterungen und -verbesserungen erreicht werden können, ist fraglich. Das durchschnittliche Haushaltsnettoeinkommen ist in Leipzig immer noch deutlich niedriger als in anderen deutschen Großstädten. Attraktive Fahrpreise sind daher ein weiteres, wichtiges Kriterium, um die Bürger zum Umsteigen vom Auto auf den ÖPNV zu bewegen.“

Und er betonte auch: „Unser Antrag versteht sich ausdrücklich nicht als bloßer Prüfauftrag. Er gibt der Verwaltung klare Prüfschritte vor, deren Ergebnisse in die Konzepterstellung einfließen sollen. Wie viele Kunden können zusätzlich durch das 365-Euro-Ticket gewonnen werden? Welche Angebotserweiterungen sind dadurch zusätzlich neben den bereits angedachten Maßnahmen nötig? Und zu welchen finanziellen Auswirkungen wird dieses Ticket führen, sowohl unmittelbar als auch investiv?

Wenn man bedenkt, dass mit mehr Fahrgästen die Bahnen und Busse besser ausgelastet sind und diese schneller durch die Stadt kommen, dann haben wir auch gegenläufige finanzielle Effekte. 100 Fahrer lassen sich z. B. einsparen, wenn sich die durchschnittliche Reisegeschwindigkeit um 1km/h erhöht. Hinsichtlich möglicher nötiger Angebotserweiterungen favorisieren wir im übrigen eine Busnetzreform, die schnell und preiswert umgesetzt werden kann, sowie ein Ausbau des S-Bahn Netzes, wozu wir mit unserem Antrag zur Prüfung eines S-Bahnrings einen konkreten Vorschlag bereits gemacht haben.“

Beides gehöre also zusammen: die (schrittweise) Umsetzung des Nachhaltigkeitsszenarios und der Zeitpunkt, an dem die Einführung eines 365-Euro-Tickets Sinn macht. Und dass es Sinn macht, zeigt nicht nur Wien. Auch andere Städte – etwa Stuttgart – experimentieren mit deutlichen Fahrpreisvergünstigungen, um den Autofahrern das Umsteigen auf ÖPNV schmackhaft zu machen.

Aber was Oßwald vermisst, ist nun einmal der erste Fahrplan für das Nachhaltigkeitsszenario.

„Wir wollen aber auch mit diesem Antrag die Verwaltung noch mal klar auffordern, die Umsetzung des Nachhaltigkeitsszenarios finanziell zu untersetzen, mit allen Auswirkungen auf die kommenden Haushaltsjahre bzw. Wirtschaftsjahre bei der Stadt und der LVV Gruppe“, betonte er. Es ist ja nicht so, dass die Verwaltung vom Stadtratsbeschluss zum Nachhaltigkeitsszenario überrascht wurde. Sie hatte ja selbst die verschiedenen Szenarien vorgelegt und erste Kostenabschätzungen vorgenommen. Seit September müssten eigentlich die Planer über den Tabellen sitzen und die ersten notwendigen und machbaren Investitionen durchrechnen. Neun Monate sind verstrichen, die Zeit läuft.

Weshalb Oßwald auch extra betonte: „Daher ist der mit dem Beschluss zur Mobilitätsstrategie eingeforderte Zeit- und Maßnahmeplan zur Priorisierung von notwendigen Investitionen noch zwingend dieses Jahr vorzulegen. Wir müssen jetzt wissen, welche personellen Ressourcen gebraucht werden, um die nötigen Planungsvorläufe zu schaffen.“

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