Vielleicht war es ja selbst schon Wahlkampf, was FDP-Stadtrat Sven Morlok am Freitag, 26. April, vermelden ließ: Er erklärte den gemeinsamen Vorstoß von SPD- und Linksfraktion für einen „billigen Wahlkampftrick“. Aber ob er damit seiner Partei etwas Gutes tut, ist offen. Denn Leipzig ist beileibe nicht die einzige Stadt in Deutschland, die jetzt ernsthaft über die Einführung eines 365-Euro-Jahresabos für den ÖPNV nachdenkt. Und dass der Prüfauftrag auch nach der Kommunalwahl gilt, betonten die beiden Fraktionen am Freitag extra.

Sie hatten, um das durchaus beeindruckende Vorhaben noch einmal genauer zu erklären, extra zu einer gemeinsamen Pressekonferenz in den Räumen der SPD-Fraktion eingeladen. Ursprünglich hatte ja die Linksfraktion allein den Antrag gestellt, die Einführung eines 365-Euro-Jahrestickets nach Wiener Vorbild für Leipzig ab 2021 zu prüfen. Schon das durchaus ungewöhnlich, weil man an so große Projektanträge aus dem Stadtrat seit Jahren nicht mehr gewöhnt war.

Aber seit zwei Jahren hat sich die Atmosphäre deutschlandweit verändert. Darauf ging nicht nur Christopher Zenker, der Vorsitzende der SPD-Fraktion ein, dem sehr wohl bewusst ist, dass damals auch in Leipzig noch niemand so kühn gewesen wäre, so ein deutlich preiswertes Abo-Modell zu beantragen. Aber mit der Dieselaffäre und den drohenden Fahrverboten in mehreren deutschen Städten hat sich auch das politische Klima verändert. Selbst die Bundesregierung ist seitdem bereit, echte ÖPNV-Alternativen mit Milliarden zu fördern, wenn nur Fahrverbote für den geliebten Diesel vermieden werden.

Und nicht nur die Bundesregierung zeigt sich auf einmal offen – sogar für Pilotprojekte mit kostenfreiem ÖPNV. Die Landesregierung in Baden-Württemberg nimmt sogar richtig Geld in die Hand, um den von Fahrverboten bedrohten Städten bei der Einführung preiswerter ÖPNV-Modelle zu helfen. Denn dazu braucht es ja nur ganz einfache Politik: Wer es schafft, mehr Menschen zum Umstieg in einen attraktiven ÖPNV zu bewegen, der entlastet die Straßen, der sorgt dafür, dass deutlich weniger Pkw die Straßen verstopfen.

Das steckt übrigens auch hinter dem im Herbst 2018 vom Stadtrat beschlossenen Nachhaltigkeitsszenario für die Mobilität. Der Stadtrat hätte sich auch für das Weiter-so-Szenario aussprechen können, was letztlich bedeutet hätte, dass der ÖPNV weiter unter Kapazitätsproblemen leidet und die Autofahrer trotzdem im Stau stecken, erst recht, wenn die Stadt weiter wächst auf 650.000 oder 700.000 Einwohner.

Wie kommt man zu mehr Fahrgästen bei den LVB?

Denn dieses Weiterso wäre die Fortschreibung einer seit zehn Jahren sichtbaren Unterfinanzierung der LVB. „Wir müssen unabhängig vom Wahlkampf zu vernünftigen Lösungen kommen“, sagt Steffen Wehmann, der finanzpolitische Sprecher der Linksfraktion. Dabei wäre es Verwaltungsaufgabe gewesen, das beschlossene Nachhaltigkeitsszenario auch mit Projektschritten, Zeitplänen und genauen Kostenverteilungen zu untersetzen. Denn das Ziel ist ja darin festgeschrieben: Die Nutzerzahlen der LVB sollen von derzeit 156 Millionen auf (mindestens) 220 Millionen Fahrgäste steigen. Aber dazu gehören nicht nur der Netzausbau und die Verdichtung der Takte auf allen wichtigen Linien.

Dazu gehört auch die Frage: Was steckt eigentlich hinter der Aufstockung des Zuschusses an die LVB von derzeit 50 Millionen Euro auf künftig 110 bis 140 Millionen, wie im Nachhaltigkeitsszenario festgeschrieben? Das sind doch nicht nur die zusätzlichen Fahrer und Fahrerinnen, die man bezahlen muss, um mehr Bahnen und Busse fahren zu lassen. Das beinhaltet ja auch genau das, was der jetzt von Linken und SPD gemeinsam verfasste Antrag auflistet: Die Nutzung der Nahverkehrsangebote für die Leipziger attraktiver zu machen. Und dazu gehören nun einmal auch die Fahrpreise.

Linke-Stadträtin Franziska Riekewald ist sich sicher, dass ein 365-Euro-Jahresticket nicht nur für Menschen attraktiv ist, die heute schon die Leipzigpass Mobilcard nutzen. Auch für viele Leipziger, die mit gewöhnlichen niedrigen Einkommen über die Runden kommen müssen, sind die aktuellen Abo-Preise eigentlich zu teuer. „Ich bin der Meinung, dass die Ticketpreise schon lange zu hoch sind“, sagt Riekewald. Deswegen habe man die Initiative des Ökolöwen sofort aufgegriffen und einen Stadtratsantrag draus gemacht.

Preiswerte Tickets statt Fahrverbote

Das sah dann zwar wie eine Wahlkampfaktion aus. Aber auch die SPD hat das Thema ja im Wahlprogramm. Also suchte Christopher Zenker das Gespräch mit der Linksfraktion, beide Fraktionen setzten sich noch einmal zusammen und schrieben mit dem neuen, nun gemeinsamen Antrag im Grunde eine Laufliste für die Verwaltung, in der sehr detailliert aufgeschrieben ist, was die Fachleute nun wirklich prüfen sollen.

Das geht mit der Zielerreichung im Nachhaltigkeitsszenario los, und geht mit der Frage weiter: Wie viel Nachfrage wird mit einem preiswerten Abo eigentlich ausgelöst? Wo sind im LVB-Netz die größten Bedarfe, muss also sofort auch das Angebot erweitert werden?

Und das gehe, so Henrik Fischer vom SPD-Arbeitskreis Stadtentwicklung und Verkehr, nun einmal am schnellsten mit neuen Buslinien. Bis hin zu Expressbuslinien, die ringförmig die wichtigsten Nahverkehrsknotenpunkte verbinden.

Und natürlich sollen auch die finanziellen Auswirkungen geprüft werden. Denn dass die Einführung des 365-Euro-Tickets Einnahmelöcher von 20 bis 30 Millionen Euro bei den LVB reißt, glaubt auch Heiko Oßwald, in der SPD-Fraktion fürs Finanzielle zuständig, nicht. Wer redlich an die Sache herangehe, müsse davon ausgehen, dass mit der Umsetzung des Nachhaltigkeitsszenarios die Fahrgastzahlen der LVB deutlich steigen. „Sonst macht das ja wirklich keinen Sinn“, so Oßwald.

Ohne Bund und Land geht das nicht

Wobei er genauso wie Wehmann betont, dass die Verbesserung des ÖPNV in den Städten nicht allein Aufgabe der Kommunen sein könne. „Ohne eine echte Unterstützung von Bund und Land geht es nicht“, sagt Wehmann. Wer davon ausginge, dass die Kommunen das wieder allein stemmen könnten, läge falsch. Auch der Bund müsse lernen, dass er mehr Geld in den ÖPNV stecken müsse, wenn er seine Klimaziele erreichen will.

Und während die Kritik aus der FDP suggeriert, Leipzig würde jetzt einfach in der Mai-Ratsversammlung beschließen, das preiswerte Jahres-Abo einzuführen, verwiesen Linke und SPD auf den von ihnen beantragten Zeitplan. Denn bis Dezember sollen erst einmal die Prüfergebnisse der Verwaltung vorliegen – samt nötigen Finanzierungsschritten. „Dann wissen wir überhaupt erst einmal, worüber wir zu entscheiden haben“, sagt Wehmann.

Und dann ist auch berechenbar, wann Leipzig in der Lage sein könnte, das Ticket tatsächlich einzuführen. Das Jahr 2021 halten dabei auch die beiden beteiligten Fraktionen für „sehr sportlich“. Auch weil einige der absehbaren Investitionen der LVB nicht vor 2023 umgesetzt sein werden. „2027 freilich können wir damit rechnen, dass die meisten Maßnahmen dann umgesetzt sind“, so Wehmann.

Aber auch 2024 wäre kein unrealistisches Einführungsdatum, denn mit einer kleinen Busreform, die neue Verbindungen schafft, mehr Fahrzeugen und Fahrern könnte die Kapazität auch im jetzt bestehenden Netz schon deutlich erhöht werden.

Für zentral hält Linke-Stadtrat Reiner Engelmann dabei die Taktverdichtug auf allen Hauptlinien der Straßenbahn. Dort verkehren viele wichtige Linien heute im 10-Minuten-Takt. „Das Ziel aber müsste schnellstens ein 5-Minuten-Takt sein“, so Engelmann. Also zwei Linien, wie sie schon jetzt auf der Nord-Süd-Achse von 10 und 11 verkehren (sofern kein Ferienfahrplan stattfindet). Wobei er da so ein Gefühl hat, dass der 5-Minuten-Takt auf allen Hauptstrecken schneller kommt als das 365-Euro-Ticket.

Und wenn die Bahnen öfter und verlässlicher fahren, wäre sowieso der erste Schritt getan, mehr Fahrgäste für de ÖPNV in Leipzig zu gewinnen.

Leipziger Zeitung: Wo ein Wille ist … zwei Wahlen stehen vor der Tür

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