Die Zahlen für die Region Leipzig werden zwar erst im Januar veröffentlicht. Aber schon die gesamtdeutsche Auswertung, die am Mittwoch, 10. November, in Neuss im aktuellen SchuldnerAtlas Deutschland 2021 von Creditreform veröffentlicht wurde, brachte eine Überraschung: Die Zahl der überschuldeten Verbraucher in Deutschland hat 2021 einen Tiefststand erreicht, es sind so wenig wie noch nie seit Beginn der Auswertungen 2004.

Die Zahl überschuldeter Privatpersonen in Deutschland hat sich gegenüber dem Vorjahr um rund 700.000 Fälle (- 10,1 Prozent) auf 6,16 Millionen verringert. 3,08 Millionen Haushalte gelten damit als überschuldet und nachhaltig zahlungsgestört. Die Überschuldungsquote, also der Anteil überschuldeter Personen im Verhältnis zu allen Erwachsenen in Deutschland, sinkt um mehr als einen Prozentpunkt auf 8,86 Prozent und ist damit erstmals unter die Neun-Prozent-Marke gefallen.

Verschleierte Überschuldungslage

„Die positiven Zahlen sind in Anbetracht der langanhaltenden Corona-Lage ein Überschuldungs-Paradoxon“, kommentiert Patrik-Ludwig Hantzsch, Leiter der Wirtschaftsforschung bei Creditreform, dieses Ergebnis. Bereits im vergangenen Jahr entwickelte sich die Lage erstaunlich positiv. Die andauernden staatlichen Hilfsmaßnahmen, insbesondere das Kurzarbeitergeld und die Überbrückungshilfen, stützten massiv die Unternehmen und damit auch Arbeitsplätze und Verbraucher.

„Die derzeit noch stabile Situation der Verbraucher ist eng mit der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung verbunden“, so Hantzsch. Die Folgen der Corona-Pandemie seien bei der Überschuldung nicht akut spürbar, sondern würden zeitverzögert und mit Langzeitwirkung auftreten.

„Megatrends wie gestörte Lieferketten, steigende Energiepreise und anhaltende Inflation wirken erst auf die Wirtschaft und dann auf die Geldbeutel der Verbraucher“, vermutet Hantzsch. Immerhin ploppen immer wieder Meldungen zu kommenden wirtschaftlichen Schieflagen auf, ohne dass diese bislang tatsächlich eingetreten sind.

Wie die Corona-Pandemie die Haushaltseinkomme schmälert. Grafik: Creditreform
Wie die Corona-Pandemie die Haushaltseinkommen schmälert. Grafik: Creditreform

Vielleicht trifft daher ein anderes Argument eher zu, das Hantzsch benennt: Angesichts der unklaren Lage haben viele Verbraucher in der Pandemie mit Ausgabenvorsicht und Konsumzurückhaltung reagiert und dadurch mehr als 200 Milliarden Euro zusätzlich seit Anfang 2020 angehäuft.

Was dann die üblichen Meldungen – wie hier im „Spiegel“ – als „aufgehäufte Geldvermögen“ bezeichnen. „Bargeld und Bankeinlagen etwa auf Giro- und Tagesgeldkonten machten mit gut 2910 Milliarden Euro Ende Juni weiterhin den größten Posten aus. Im zweiten Quartal kamen rund 52 Milliarden Euro hinzu“, konnte man da am 14. Oktober lesen.

Nur sind die Menschen, die ihr Geld nicht mehr ausgeben können, oft nicht dieselben, deren Haushalte überschuldet sind. Und gerade die Haushalte mit geringen Einkommen werden sich in der Pandemie-Zeit gehütet haben, Ausgaben zu tätigen, deren Finanzierung nicht gesichert ist. Man spart nicht, weil die Lage besonders günstig ist, sondern weil man (siehe unten) vermehrt „finanziellen Stress“ erlebt.

Stabile Lage, gemischte Aussichten

„Die aktuellen Zahlen zeigen uns einen positiven Gesamttrend auf fast allen Ebenen“, sagt Stephan Vila, Geschäftsführer von Creditreform Boniversum und microm. „Überschuldungsquoten und Überschuldungsfälle sinken bei Männern und Frauen sowie in fast allen Altersgruppen.“

Eine Entwarnung sei dieser Befund allerdings nicht: „Zwar sinkt die direkte Betroffenheit von Unternehmen und Verbrauchern durch die Corona-Verordnung weiter“, so der Experte, „derzeit sind aber immer noch 32 Prozent oder rund 13,5 Millionen Haushalte von Einbußen beim Haushaltsnettoeinkommen betroffen.“ Außerdem habe der sogenannte „finanzielle Stress“ der Verbraucher wieder zugenommen und sei auf dem höchsten Wert seit Mai 2020.

Sondereffekte: Altersarmut und Privatinsolvenzen

„Altersarmut bleibt trotz allem ein Thema“, sagt Michael Goy-Yun, Geschäftsführer von Creditreform Boniversum und microm. „Die 60- bis 69-Jährigen zeigen 2021 als einzige Altersgruppe einen Anstieg der Überschuldungsfälle und -quote.“ Derzeit seien 769.000 Überschuldungsfälle in diesem Alterssegment zu verzeichnen – ein Zuwachs von 44.000 Fällen oder 6 Prozent.

Die falsche Rentenpolitik der vergangenen Jahre macht sich immer stärker bemerkbar mit einer zunehmenden Zahl von Seniorenhaushalten, in denen das Einkommen nicht mehr zur Abdeckung aller lebensnotwendigen Kosten reicht. Die Altersarmut wächst.

Auslöser von Überschuldung. Grafik: Creditreform
Auslöser von Überschuldung. Grafik: Creditreform

Bedenklich dabei auch aus Sicht von Creditreform: Die Zahl „harter“ Überschuldungsfälle mit juristisch relevanten Sachverhalten steigt deutlich um 113.000 Fälle, während die Zahl „weicher Fälle“ mit geringer Intensität zurückgehe (- 69.000 Fälle).

„Bei den Privatinsolvenzen können wir einen Sondereffekt beobachten“, erläutert Stephan Vila. „Der deutlichste Anstieg seit über zehn Jahren liegt vor allem an der verkürzten Restschuldbefreiung von drei Jahren (bisher: sechs Jahre). Die für 2021 zu erwartenden rund 100.000 Verbraucherinsolvenzverfahren sind allerdings nur die Spitze des Eisbergs, denn sie machen nur rund zwei Prozent der aktuellen Überschuldungsfälle aus“, so Vila.

Ländertrends durchgehend positiv

Positive Überschuldungsentwicklung zeigt sich 2021 sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland, wie zuletzt in den Jahren 2008/09.

„Alle 401 Kreise und Kreisfreien Städte in Deutschland verzeichnen einen Rückgang der Überschuldungsquote“, sagt Michael Goy-Yun. Insgesamt sind in den westlichen Bundesländern rund 5,17 Millionen, in Ostdeutschland rund 0,99 Millionen Personen überschuldet. Bei elf Bundesländern ist die Abnahme der Überschuldung überdurchschnittlich, wobei Bayern die geringste Verbesserung aufweist (6,43 Prozent; – 0,71 Punkte).

Im bundesweiten Ranking verschlechtert sich der Freistaat Sachsen von Platz 5 auf Platz 6 und liegt hinter Bayern, Baden-Württemberg, Thüringen, Brandenburg und Hessen. Sachsen wurde dabei von Hessen überholt, auch wenn die Überschuldungsquote in Sachsen von 9,66 auf 8,87 Prozent sank.

Den deutlichsten Rückgang kann Hamburg verzeichnen mit – 1,43 Punkten auf 9,10 Prozent Überschuldung. Die Schlusslichter bleiben wie in den Vorjahren Bremen (12,81 Prozent; – 1,16 Punkte), Sachsen-Anhalt (11,56 Prozent; – 1,06 Punkte) und Berlin (10,81 Prozent; – 1,21 Punkte).

Zahlen zu Leipzig

Auf Kreisebene findet man Leipzig mit einer Überschuldungsquote von 11,32 Prozent (Vorjahr: 12,45 Prozent) auf Rang 354 unter den 401 Kreisen und Kreisfreien Städten. Damit befindet sich Leipzig in bester Gesellschaft, denn ähnlich hoch ist das Überschuldungsniveau in Chemnitz, im Südharz, im Harzkreis und in Goslar, in Bremen (Stadt), Bochum und Anhalt-Bitterfeld.

Indirekt erzählen diese Quoten natürlich von den niedrigen Einkommen in diesen Städten und Kreisen. Denn Hauptüberschuldungsgründe sind Arbeitslosigkeit (1,19 Millionen Fälle), Erkrankungen, Sucht, Unfälle (1,10 Millionen Fälle) und Trennung, Scheidung, Tod (0,72 Millionen Fälle), also all die Dinge, die eine Berufstätigkeit abrupt beenden können und oft sofort zu Ausgaben führen, für die jegliche Rücklagen fehlen.

Aber so ganz nebenbei gibt Creditreform auch eine Zahl aus, die durchaus alarmieren dürfte: 0,68 Millionen Fälle von Überschuldung gehen auf ein „längerfristiges Niedrigeinkommen“ zurück. Und diese Zahl hat als einzige gegenüber 2020 zugelegt um 3 Prozent.

Im Zeitraum 2008 bis 2021 sogar um 197 Prozent. Was im Klartext heißt: der riesige Niedriglohnsektor, den es in Deutschland immer noch gibt, ist für Hunderttausende der direkte Weg in die Überschuldungsfalle. Während die gescheiterte Selbstständigkeit immer weniger der Grund dafür ist, dass Menschen überschuldet sind. Hier waren jetzt noch 530.000 Personen registriert, 6 Prozent weniger als 2020.

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