Von Anfang an hat Mark Lehmstedt das Programm seines Verlages auch der großen Fotografie aus der DDR gewidmet. Große Bildbände erschienen mit den eindrucksvollen Fotos von Roger Melis, den Rössings, Thomas Steinert und so weiter. Jeder Band eine Entdeckung - nicht nur, was die Fotografen betrifft, sondern auch, was das Land betrifft, das da fotografiert wurde. Mit dem anderswo gepflegten Bild der DDR hatte das sichtlich nichts zu tun.

Wer die Bände durchblättert, braucht nicht mehr viele Erklärungen zur dort sichtbar werdenden Qualität. Hier wurde gezeigt, was in DDR-Zeiten nur in Nischen und wenigen Spuren sichtbar werden durfte – in kleinen Ausstellungen, wenigen Magazinen, da und dort einem flüchtigen Auftritt in einer Publikumszeitschrift. Die Bilderwelt der DDR-Medien war von einer anderen Ästhetik geprägt, einer mehrfach gefilterten Propagandafotografie ganz im Dienst der herrschenden Ideologie. Davon sind die alten Archive heute noch voll. Und das prägt das Bild der DDR bis heute. Ob nun Fernsehen, Zeitschriften, Ausstellungen oder Bildbände über die DDR – die Autoren greifen gedankenlos immer wieder auf diese prall mit Propaganda gefüllten Staatsarchive zurück.

Und vermitteln so ein falsches Bild, nämlich das, wie es die Staatsfunktionäre gern haben wollten.

Im Vorwort zu diesem ersten Band eines monumentalen Projektes geht Herausgeber Mathias Bertram auf dieses Problem ein. Sehr kritisch, weil es 24 Jahre nach dem Ende der DDR so nicht mehr akzeptabel ist. Gerade die Fotobände des Lehmstedt Verlages – aber auch viele andere Monografien und Einzelausstellungen der letzten Jahre – haben mehr als deutlich gezeigt, dass es in der DDR eine andere, qualitativ hochwertige und eindrucksvolle dokumentarische Fotografie gab. Rund 60 Fotografinnen und Fotografen hat Bertram für dieses zweibändige Buchprojekt vereint und aus einem gewaltigen Fundus, der mittlerweile auch in großen öffentlichen Fotoarchiven zugänglich ist, rund 350 Fotografien ausgewählt, die eins ums andere den anderen, realistischen und eindringlichen Blick zeigen auf das Land, wie es die Meisten selbst erlebt haben.

Man kann nicht einmal sagen: die Kehrseite der üblichen Propaganda-Bilder. Denn auch wenn die alten ADN- und Zeitungsarchive der DDR platzen von Hunderttausenden Bildern, die das falsche Selbstbild der Mächtigen illustrieren, sagt die schiere Menge dieser Bilder nichts über den Teil der Wirklichkeit, den sie tatsächlich erfasst. Denn der größere Teil der nicht-offiziösen Fotos durfte weder in Zeitungen noch Zeitschriften oder Magazinen gezeigt werden. Weder Armut noch Verfall, nicht die kaputten Städte noch die vergessenen Dörfer, nicht die müden Arbeiter oder die beengten Wohnverhältnisse. Eben all das nicht, was für die meisten Bewohner des Landes die Realität war. Und wie sie auch in den von Bertram ausgewählten Fotos sichtbar wird. Die Fotos bestechen fast alle durch ihre künstlerische Qualität und den fast poetischen Blick auf die Welt – der kein romantischer ist, eher ein liebevoller, skeptischer, manchmal ironischer.Viele der Fotos entstanden weitab von jeder Chance, in der DDR je veröffentlicht zu werden. Sie zeigen die Arbeitswelt, die Feierkultur, die Lebenswelt der Einwohner dieses kleinen Landes, die sich vom offiziellen Bild in den Medien deutlich unterschieden. Viele der Themenwelten, die hier sichtbar werden, gab es in der offiziellen Fotografie gar nicht. Die Fotografen sparten den Blick in die müden Gesichter der Schichtarbeiter genauso wenig aus wie den in die Hinterhöfe, die Krankenhäuser und die Altenheime, sie zeigen die Soldaten hinter den Kulissen der Paraden, die Jugendlichen am Rand der Rummelplätze, die vom Leben gegerbten Bewohner der Uckermark genauso wie die spielenden Straßenkinder oder die Fahrgäste einer überfüllten Straßenbahn.

Beim Durchblättern diese ersten Bandes mit Bildern aus den frühen Jahren von 1945 bis 1975 lässt sich schnell verstehen, warum für das Projekt der von Arno Fischer, einem der wichtigsten Vertreter der DDR-Fotografie, geprägte Begriff “das pure Leben” als Titel gewählt wurde. Denn genau das wird hier sichtbar. Und damit werden die eigentlichen Bewohner der DDR auch sichtbar, die Menschen, wie sie in den zum Teil heftig abgenutzten und kärglichen Verhältnissen trotzdem ein erfülltes Leben leben, manchmal in einer Kulisse, die sichtlich den Verfall kaschiert, oft mit einem beeindruckenden Improvisationstalent, und immer wieder so vertraut, wie es die Gestalten aus der Propaganda nie sind. Hier spielen sie keine Rolle im Theater der Mächtigen. Hier sind sie ganz sie selbst. Was ja bekanntlich eine der ganz großen Qualitäten der Fotografie ist – wenn sie das Vertrauen zu den Fotografierten so weit öffnen kann, dass die Pose sich löst und die Gelassenheit wieder die Oberhand gewinnt.

Ein Wort, das einem so beiläufig einfällt, wenn man so blättert. Als säße ein fröhlich albernder Goethe neben einem und würde mit blitzenden Augen in eine schnapsselige Kneipenrunde schmettern. “Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!”Natürlich sitzt der Geheimrat in keinem der Bilder mit am Tisch, ist auch nicht im Meer der Schichtwechsel am Zug in Halle-Neustadt zu entdecken und spaziert auch nicht durch die verrußte Altstadt von Görlitz. Oft genug frappiert der Kontrast der grauen, unsanierten Häuserzeilen und der sichtlich greifbaren Lebenslust der Menschen im Fokus der Kamera – Liebende, Spielende, Erwartungsvolle, Wartende und Sinnende. Da und dort hat Bertram natürlich auch Fotos aufgenommen, die das Land in seinem Versuch zeigen, die Schäden des 2. Weltkriegs zu beseitigen und wieder Anschluss zu finden an die Wirtschaftsentwicklung der Welt – mit rauchenden Schloten in Bitterfeld, dem Trabi im Dichtigkeitstest oder den Bauarbeiten für das Eisenhüttenkombinat Ost. Da kommen auch die stolzen Zimmerleute ins Bild, die malochenden Schienenleger oder die Kumpel im Stollen bei der Brotpause.

Etliche Bilder sah man schon in den anderen Bildbänden, die Bertram für den Lehmstedt Verlag herausgegeben hat – und etliche davon sind mittlerweile zu Ikonen geworden, weil sie das Typische ihrer Zeit eingefangen haben – wie etwa das Bild der Demonstrierenden am 17. Juni 1953 in Leipzig vor dem Hauptbahnhof.

Die Hälfte der von Bertram ausgewählten Fotos sind in diesem ersten Band zu finden, der vor allem die Zeit der Aufbrüche zeigt – von 1945 und den Bildern der Trümmerfrauen bis 1975, einem Jahr, das in etwa die Zäsur bezeichnet, bevor das Land tatsächlich immer mehr in Lethargie verfiel. Bis dahin gibt es eine ganze Reihe von Jahreszahlen, die für die Bürger Ostdeutschlands immer auch Jahre neuer Erwartungen waren – 1945, 1949, auch 1953, sogar 1961, dem Jahr des Mauerbaus, mit dem die Hoffnung verbunden war, die SED-Führung würde jetzt innenpolitisch endlich die Zügel lockerer lassen. 1968 gehört noch in die Zeit, genauso wie die Hoffnungen, die 1971 mit dem Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker einher gingen. Das war auch 1973 noch greifbar, als die für die DDR sehr offenen Jugendfestspiele in Berlin stattfanden.

Doch Mitte der 1970er Jahre kippte das. Als eindeutige Zäsur steht da die Ausbürgerung von Wolf Biermann 1976, ein Akt, von dem die verantwortlichen Funktionäre um Honecker wohl bis zuletzt nicht begriffen, wie sehr sie damit das letzte bisschen Vertrauen, das die Bürger des Landes in ihre Politik noch hatten, zerstörten. Aber diese späte, zermürbte und enttäuschte DDR wird dann im zweiten Bildband sichtbar, den wir an dieser Stele in den nächsten Tagen besprechen.

Dieser erste zeigt schon eindrucksvoll genug, wie sehr die offizielle Bildpropaganda sich unterschied von den Bildern des täglichen Lebens, die von begnadeten Fotografinnen und Fotografen eingefangen wurden in Schwarz-Weiß. Fast ist man geneigt, sich selbst zu suchen in diesen Bildern, gerade in jenen ab den 1960er Jahren, in denen auch im Straßenbild durchaus sichtbar wurde, dass der Versuch der DDR, zur modernen Welt wieder Anschluss zu finden, sogar von Erfolg gekrönt war. Es war zumindest zu diesem Zeitpunkt kein kaputtes Land, sondern eines, das durchaus auch das Zeug hatte, mit modernen Entwicklungen Schritt zu halten. Aber die genannten Zäsuren zeigen auch im Nachhinein, dass die Angst der Funktionäre um ihre Macht größer war als der Wille, aus dem Osten Deutschlands tatsächlich ein modernes Land zu machen. Insofern stimmt die Zäsur 1975: Ab da begann der zähe Kampf um den Erhalt der Macht das Land zu zerrütten.

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Das pure Leben
Mathias Bertram, Lehmstedt Verlag 2014, 24,90 Euro

Mit den zwei Bildbänden – jeder ist einzeln erwerbbar und steht mit seiner Bilderwelt auch ganz autark da – hat der Lehmstedt Verlag jetzt im Grunde tatsächlich den ersten grandiosen “Bildroman” über die DDR vorgelegt, wie es Mark Lehmstedt ausdrückt, “nüchtern und ungeschönt, aber auch nicht ohne Heiterkeit.” So, wie das pure Leben zumeist ist hinter den Pappkulissen der Propaganda. Und wie es auch immer war bis zu jenem Herbst 1989, als die Bürger dieses Landes die Nase voll hatten von all den Pappkulissen und Wirklichkeitsverweigerungen der Funktionäre. Im Grunde erzählen selbst diese frühen Bilder, warum es zum Herbst 1989 kommen musste. Und wie sehr Brecht recht hatte, als er 1953 schrieb, so eine Regierung müsse sich dann eben ein anderes Volk suchen. Am Ende hat sich das Volk eine andere Regierung gesucht. Oder gefunden. Das kommt dann ganz auf den Blickwinkel an. Oder den Fokus, mit dem man die Zeit ins Bild holt.

www.lehmstedt.de

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