Als der 2013 erschienene „Mordor“-Roman von Ziemowit Szczerek 2017 bei Voland & Quist erschien, haben wir ihn gleich drei Mal rezensiert. Einfach aus Spaß an der Freude, einen echten Gonzo-Roman aus Polen zu rezensieren. Auch „Sieben“ ist ein Gonzo-Roman. Auch wenn man es dem Helden Pawel am Beginn seiner Fahrt über die Landesstraße Nr. 7 noch zutraut, dass er in Warschau ankommt. Vielleicht ein bisschen lädiert.

Denn er hat reingefeiert in Allerheiligen, weil eben am Vortag Halloween war und das auch in Polens alter Königsstadt Krakow besonders von jungen Leuten deftig und mit viel Alkohol gefeiert wurde. Und als Pawel, der bei einem Fakenews-Portal seine Brötchen verdient, in seinen Opel Vectra steigt, ist er nicht gerade nüchtern und lässt dann auch unterwegs keine Gelegenheit aus, den Pegel noch einmal aufzufrischen. So sehr, dass man durchaus annehmen kann, dass dieser Reisende auf der großen Straße, die Krakow mit Warschau verbindet, nicht ganz der ist, der er vielleicht in seinen nüchternen Stunden ist.

Wenn er Tickernachrichten so lange verdreht, bis daraus Schockermeldungen werden, die für enorme Klickzahlen sorgen. Solchen Kram wie: „Deutsche Armee überschreitet auf Pontonbrücken die Oder“. Wer in solchen Nachrichtenwelten lebt, der hält bald alles für möglich.

Und wer bei solchen Portalen arbeitet (und die gibt es auch bei uns), der erschafft unter dem Mäntelchen des Journalismus eine Welt voller Gerüchte, verzerrter Geschichten aus einer Wirklichkeit, die in diesen völlig überdrehten Meldungen nicht mehr erkennbar ist. Zumindest nicht für Menschen, die sich noch in der Wirklichkeit bewegen und sich ihre Skepsis bewahrt haben.

Die Menschen aber, die sich von solchen Portalen informieren lassen, rutschen ziemlich bald in eine Weltsicht ab, in der sie den seriösen Medien nicht mehr trauen, hinter jeder seriösen Nachricht etwas anderes vermuten. Da geht es den Polen wie den Deutschen. Das Obskure wird zur Politik. Wobei dieser Pawel immerhin noch weiß, was er da tut und wie er es macht.

Was freilich dieser enorm wichtige Termin ist, für den er sich an Allerheiligen in sein Auto setzt, erfahren wir nicht wirklich. Auch wenn man ziemlich schnell merkt, dass dieser Bursche, der doch im Grunde sehr viel und sehr nachvollziehbar reflektiert über sein Land und dessen Bewohner, doch zu allerlei seltsamen Reaktionen neigt, die sich in seinem Grübeln gar nicht erst andeuten.

Das, was in Pawels Kopf abgeht und was er tatsächlich tut, ist nicht wirklich deckungsgleich, obwohl er dabei mit einer erstaunlichen Rationalität handelt. Zumindest bis er den ersten Fahrgast an Bord nimmt, der sich als Anhänger eines Hexerkults entpuppt. Und Pawel dann doch auf seltsame Weise einen Revolver und eine Batterie bunter Elixiere hinterlässt, die Pawel im Verlauf der Fahrt hinein in jenes von ihm geradezu verachtete „Kongresspolen“ emsig benutzt.

Auch die Pistole, die in einem Nest namens Lycory alias Wola dann zum Einsatz kommt, als Pawel sich von allen berühmten Königen Polens angegriffen fühlt.

Dort hingeraten ist er schon mit einem Trupp wilder Kulturkämpfer, die mit Attacken auf hässliche Bauwerke, wie hier ein nachgebautes Schloss, versuchen, die polnische Kultur zu retten. Sein Auto hat er vorher, als er es – abgefüllt mit weiteren Promille – in den Straßengraben gesetzt hat, selbst abgefackelt. Um Spuren zu verwischen. Die Rationalität des gesetzestreuen Bürgers, der weiß, wie man der Polizei ein Schnippchen schlagen kann, ist noch lebendig in ihm.

Nur mit seinem Selbsterhaltungstrieb scheint etwas nicht zu stimmen, denn das bleibt weder das erste Auto, das er benutzt, noch der letzte Unfall. Und die Begegnung mit den Kulturterroristen ist nicht die einzige seltsame, auf die er sich ohne nachzudenken einlässt.

Es ist wie in „Mordor kommt und frisst uns auf“: Man weiß nicht genau, ob dieser Held nicht tatsächlich nur ein genauso „normaler“ Mitmensch ist, wie er auch sächsische Kneipen, Foren und Parteien bevölkert, die ganze Geschichte also von einem eigentlich ganz vernünftigen Menschen erzählt, der aber in einer Gonzo-Welt lebt, die dann ihr Eigenleben entwickelt.

Bei Gonzo-Journalismus geht es ja darum, radikal-subjektiv zu berichten, den Text also auch ordentlich aufzubrezeln mit Emotionen, subjektiven Meinungen und literarischen Konstrukten. Der Stoff ist hochgradig unterhaltsam. Aber auch hochgefährlich, wenn Produzenten und Konsumenten dieses Stoffes vergessen, dass er kein rationaler Bericht über die Wirklichkeit ist.

Und jeder kann sich umschauen in der Welt

Es gibt erstaunlich viele Menschen, die nur zu bereit sind, in einer Gonzo-Welt zu leben. Und das Feine an Pawels Reise ins polnische Herz ist: Er gerät dabei in eine der größten und wirksamsten Gonzo-Geschichten, in den polnischen Nationalismus mit all seinen Versuchen, sich aus einer desolaten Geschichte ein alternatives Selbstbild zu basteln.

Wobei dieser Pawel durchaus in der Lage ist, sich auch in die Sichtweisen von Tschechen, Slowaken und anderen polnischen Nachbarn hineinzuversetzen. Oder besser: In deren nationale Gonzo-Geschichten. Denn nichts anderes bedienen ja die diversen Nationalismen, denen die reale Geschichte nie genug ist, und die stattdessen das Bild einer überlegenen Nation konstruieren, die nur deshalb immer wieder in Nöte gerät, weil sie von einer geheimen Verschwörung niedergehalten wird.

National-Pathos verquickt mit Opfermythos. Das Schmierenrezept ist wirklich bei allen Nationalisten dasselbe.

Und man kommt gar nicht umhin, dabei auch an das auch so schlecht behandelte Ostdeutschland zu denken, wo Pawel wahrscheinlich ganz ähnlich irre Typen in großer Zahl finden würde, die mit ihm über die verlorene Größe mythischer Vergangenheit diskutieren würden. Lauter Leute, die das Gerede der neueren Nationalisten nur zu gern übernehmen. Und wer den falschen Zungenschlag hat und nicht mitnickt, gehört nicht dazu, wird schief angeguckt und bekommt die Frage gestellt: Was ist denn das für einer?

Das passiert auch Pawel beinah

Aber er kennt seine Landsleute und ihre Zerrissenheit, ihr Misstrauen in das Land, das sie haben, ganz so, als wäre Polen nur ein großer Traum, wenn Polen nicht existiert. Und wenn es dann existiert und mal nicht von den wilden Nachbarn geteilt und besetzt ist, findet es nie seinen Platz zwischen Osten und Westen und will doch gern die Mitte von allem sein. Pawels Reise auf der Landstraße Nr. 7 wird zu einer abenteuerlichen Reise in eben diese polnischen Selbstbilder. Und die Bilder der Polen von ihren Mächtigen – nicht nur den seltsamen Königen der 1.000-jährigen Geschichte – von denen einige augenscheinlich einen verdammt schlechten Ruf haben – sondern auch die Spitzenpolitiker der jüngeren Vergangenheit.

Während Pawel den einen in einem Gipskabinett die Köpfe abschießt, findet er die anderen als kuriose Grabmäler auf einem Friedhof, quasi Statuen einer nur noch als lächerlich empfundenen Gegenwart, in der Witzfiguren regieren. Und sich das Volk, der trunkene Lümmel, an Träumen von Größe und Glanz berauscht, während das Land selbst mit Werbeplakaten übersät ist und die alten Städte unter moderner Flickschusterei verschwunden sind.

Was ja auch heißt: Gonzo steckt in den Köpfen der Menschen

Ihre Träume sind in der Regel Surrogate, Kunstprodukte, Alibis dafür, für all das ringsum gar nicht verantwortlich zu sein. Deshalb ist Pawel ja extra nach Krakow gezogen, raus aus jenem Flachlandpolen, vor dem er meinte, fliehen zu müssen, mit dem er nichts zu tun haben will. Es ist ja auch nicht einfach mit den nationalen Erzählungen. Denn in der Regel stimmen sie nicht. In Polen genauso wenig wie in Deutschland, wo die Autohändler weinen, wenn sie ihre tollen Autos an einen Polen verkaufen.

Da schaut man doch gleich mal nach, wann das Buch original in Krakow erschienen ist: 2014.

Klar. Da haben auch die Polen noch nichts von den Betrügereien der deutschen Autobauer gewusst. Und weil wir schon einmal dabei sind: Übersetzt hat das Buch Thomas Weiler, der als Übersetzer in Markkleeberg lebt und augenscheinlich ein sehr feines Gespür für Pawels Wortwahl hat, seinen Jargon. Ein Jargon, der sich aber in Pawels Gedankengängen doch spürbar unterscheidet vom hingetackerten Stil des Fakenews-Portals, wo auch er gar kein Pardon kennt, die Leser in größtmögliche Schrecken zu versetzen: „Russland droht Polen: Tretet den Korridor ab, sonst …“

Man wundert sich am Ende nicht mehr, dass Pawels wilde Nachrichten Wirklichkeit werden, der Held also quasi Teil seiner eigenen Erfindungen wird, die nun nicht mehr von der Realität zu unterscheiden sind, also zu einer kompletten literarischen Geschichte werden. In der dieser Pawel Unfälle überlebt und Brände, die Dämmerung ewig zu dauern scheint und Pawel vom Fürsten Bajaj gar das herrliche Reich des imaginierten Polens gezeigt bekommt, das vom Schwarzen Meer bis zur Ostsee reicht.

Nur glaubt er selbst das nicht, wo er doch weiß, dass sein Polen immer unförmig und unfertig sein wird. Ein abgeklärter Zyniker, der sich mit den großmäuligen Zynikern am Rand seiner Reise bestens versteht.

Zumindest bekommt man so eine Ahnung davon, warum so viele Völker im Osten nun seit Jahren versuchen, in nationalem Mummenschanz wieder Kontur zu gewinnen, irgendsoetwas, das einem wieder so ein Gefühl gibt, nicht einfach nur Spielball von irgendwas zu sein. Also so eine Art Joint fürs Selbstbewusstsein, auch wenn der nur aus lauter zusammengekehrten alten Krümeln besteht. Aber sie machen high. Sie sorgen dafür, dass man nicht mal mehr auf sich selbst achtet und Dinge tut, als wäre man nur der virtuelle Held eines Spiels, aus dem man wieder aussteigen kann, wenn der Bildschirm schwarz wird.

Man wird ja übermütig, riskiert etwas, was man im richtigen Leben nie riskiert hätte. Und geht immer größere Risiken ein, so wie Pawel, dem am Ende völlig das Maß für das, was ein Mensch ungestraft überleben kann, verloren geht.

Der Autor hatte ganz bestimmt seinen Spaß mit dieser Geschichte, die entlang der Landstraße Nr. 7 mitten hineinführt in die Fiktionen polnischer Gegenwart. Und auch hineinführen sollte, während der Leser noch lange, lange mitfiebert, dass es der Held bis nach Warschau schafft.

Ziemowit Szczerek Sieben, Voland & Quist, Berlin, Dresden, Leipzig 2019, 22 Euro.

Eine Backpackergeschichte, die den Westeuropäern den Traum zeigt, den sie selbst nicht mehr träumen

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