Einmal im Jahr wird in Leipzig sächsisch gesprochen. Na gut, zwei Mal. Vielleicht auch ein bisschen öfter. Aber tatsächlich viel zu selten. Die Leipziger haben es verlernt. Ein Idiom geht so langsam verloren. Und das in einem Land, in dem die Regierenden immerfort von Heimat schwadronieren. Aber Heimat fängt mit Sprache an. Das wusste schon Luther. Also auch diesmal Mäuschen spielen beim „Gaggaudebbchen“ in der Sanftwut.

Zum 17. Mal hat die Lene-Voigt-Gesellschaft am Dienstag, 23. Mai, dazu eingeladen. Das „Gaggaudebbchen“ ist ein Vortragswettbewerb für Schüler, quasi die Junior-Olympiade für Leipziger Sächsisch, das die Dichterin Lene Voigt so genial in Gedichte und Prosatexte verwandelt hat, dass die Bändchen mit ihren Texten heute noch hinter Glas bei vielen älteren Leipzigern stehen. Wenn sie diese Texte hören, kommen sie ins Schwärmen, dann leuchten Augen. Und wenn Leipziger Kabaretts ein Lene-Voigt-Programm auflegen, ist die Bude voll.

Vielleicht nicht mehr lange.

Denn das Idiom ist am Aussterben, wie ja der Leipziger Sprachprofessor Beat Siebenhaar feststellte. Die Lebenswelten verschwinden, in denen es einmal in aller seiner Schönheit zu Hause war. Und Kinder und Jugendliche kommen mit dieser Mundart kaum noch in Berührung. Was unverständlich ist – siehe oben: Wie kann eine ganze Landesregierung fortwährend über Heimat reden, wenn nicht einmal die heimatliche Mundart in den Schulen ein Plätzchen hat? Wenigstens ein kleines?

Die Lene-Voigt-Gesellschaft hat nun über 20 Jahre ihre Erfahrungen gesammelt. Aber es ist kein Hineinkommen in Schulen und Schulstunden, wenn sich nicht engagierte Lehrerinnen finden, die mit den Kindern Theater-, Literatur- und Sächsisch-Kurse entwickeln und ihnen mit Lene Voigts Texten nicht nur die Schönheit des Leipziger Idioms erschließen. Schon das eine Bärenaufgabe, denn oft genug verwechselt man Sächsisch mit dem Gemäre, das einige sprachfaule Zeitgenossen dafür halten, wenn sie die Vokale dehnen und ab und zu „mei Gudsde“ einstreuen. Was schon viel ist.

Denn Sächsisch ist keine Bauernsprache, das Leipziger Sächsisch (Südwestosterländisch) erst recht nicht. Es ist eine ganze und reiche Sprache, die in der literarischen Verarbeitung auch alle ihre Finessen, Doppelbödigkeiten und Augenzwinkereien zeigt. Davon vieles, was auf Hochdeutsch so gar nicht auszudrücken ist. Es geht eine Menge verloren, wenn die Idiome verloren gehen. Auch ein ganzes Stück Charakter, eine Lebenshaltung, die sich über die Jahrhunderte im Idiom geformt hat. Und das Südwestosterländisch ist kein mäkliges oder gar provinzielles Idiom, sondern ein neugieriges, weltoffenes, forsches.

Was man bei einigen Wettbewerben um das Gaggaudebbchen der vergangenen Jahre auch hören konnte. Der Wettbewerb war gerade dabei, sich zur wirklichen Olympiade zu mausern, weil sich Lehrerinnen an vier Schulen daran wagten, ihre Schüler die Schönheit von Lene-Voigt-Texten erleben zu lassen. Man wird mutig dabei, wenn man erst mal gemerkt hat, was in diesen scheinbar so simplen Texten steckt. Und kluge Deutschlehrer nehmen Voigtsche Texte auch, wenn sie ihren Schülern die blödsinnige Ehrfurcht vor den Klassikern nehmen wollen. Egal, ob Schiller, Goethe oder Heine: Vor keinem hatte die Dichterin Respekt.

Und trotzdem glühen ihre Adaptionen, sitzt der Schalk drin, das, was die Sachsen früher mal auszeichnete, bevor sie lieber grämliche Bürger ohne Sprachwitz wurden.

Aber wenn die tapferen Lehrerinnen aufhören – manchmal aus Altersgründen, oft aus Zeitgründen – dann erlischt das Flämmchen. Dann gehen die Talente verloren. Und es gab Talente in den Leipziger Schulen, die haben selbst den erwachsenen Lene-Voigt-Freunden gezeigt, was Schmackes ist.

Deswegen fielen diesmal gleich zwei Schulen aus – und das fiel auf: die Delitzscher reisten nicht an und die Markkleeberger hatten keine Zeit. Und an der Louise-Peters-Schule waren auch noch Prüfungen, so dass die älteren Schülerinnen und Schüler nicht konnten. So wurde ein kleiner Wettbewerb der Kleinen draus, der Schülerinnen und Schüler der 5. und 6. Klasse, die ja gerade erst hineinschnuppern in diese Welt und dieses Idiom, das zu Hause keiner mehr spricht.

Entsprechend traurig klang dann am Ende auch eine Einschätzung der Jury: „Das Sächsische sitzt noch nicht so gut.“ Die Kinder lernen es nicht mehr mit Oma und Nachbarskindern. Es ist wie eine Fremdsprache. In die man sich in der 5. und 6. Klasse erst hineintastet. Wie klingen diese Worte? Wie funktionieren sie? Das Vertraute fehlt noch. Da klingen dann auch die kinderfreundlichsten Gedichte eher wie auswendig gelernt, noch nicht so selbstverständlich, dass man merkt: Das Kind ist genauso lebenslustig wie der Text. Die Ansätze sind da, aber da fehlt noch das Hineinwachsen.

Was daraus werden kann, wenn Lust und Übung und Souveränität zusammenkommen, das zeigte dann Lisa Behr, die nun schon zum dritten Mal dabei war und mit einer Sicherheit das „Sächsische Winteridyll“ vortrug, dass am Ende gar kein Zweifel war: Ja, so muss man Lene Voigts Texte vortragen, da steckt die ganze Aufmüpfigkeit der Dichterin drin – und damit auch die der Vortragenden. Das hat Klasse. Das war natürlich ein Gaggaudebbchen wert, das es bei diesem Wettbewerb tatsächlich gibt: eine liebevoll gestaltete Tasse samt Kakao dazu, damit man es sich an Winterabenden so gemütlichen machen kann, nebenbei etliche Bemmen futternd, eben weil’s gemiedlich ist.

Schwieriger war die Kür der Zweit- und Drittplatzierten. Denn wie gesagt: Man merkte schon, dass die Texte eifrig gelernt waren, nur das Sächsisch …

Die Jury entschied sich dann für Linda Kleinschmidt, die „De Bliemchenrache“ sehr effektvoll (und mit lauter echten falschen Blumen) vorgeführt hatte, und Hannah Rothnauer, die allerlei Küchengeschirr mit auf die Bühne geschleppt hatte, um „Mei ärschter Abbelkuchen“ vorzuführen, bekanntlich ein Kuchen, bei dem am Ende nur noch die Äbbel übrig sind. Immer wieder gern vorgetragen. Und wohl die ideale Gelegenheit für Kinder, mit dem Sächsischen auch gleich noch das Backen zu lernen.

Aber eigentlich kann’s so nicht bleiben. Da war schon mehr drin, befand auch Klaus Petermann, Moderator des kleinen Wettbewerbs und Vorsitzender der Lene-Voigt-Gesellschaft. Er will weiter versuchen, die Schulen in der Leipziger Region für das Sächsische und Lene Voigt zu begeistern. „Am liebsten würde ich Unterrichtsstunden geben“, sagt er. Aber der Marathonlauf hat erst begonnen. Denn die Schulen, bei denen er angefragt hat, haben ihn mit der üblichen Absage beglückt: Brauchen wir nicht, passt nicht rein.

Sachsens Schulen sind verschlossene Truhen. Die Dinge kommen tatsächlich erst in Bewegung, wenn Lehrerinnen und Lehrer sich nicht entmutigen lassen und selbst etwas auf die Beine stellen und die Kinder begeistern. Und Sächsisch, so Petermann, gehört in die sächsischen Schulen. „Was denn sonst?“

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