LZ/Auszug aus Ausgabe 58Nicht alle haben sich an diese Zahl gewöhnt: 18 Millionen Tonnen Lebensmittel landen hierzulande jährlich auf dem Müll, was 36 bis zur Oberkante vollbeladene Megacontainerschiffe vom Typ CMA CGM Marco Polo entspricht. Demgegenüber steht eine andere Zahl: Deutschland ist der drittgrößte Agrarexporteur der Welt; ein Drittel ihres Umsatzes erzielt die deutsche Lebensmittelindustrie im Ausland, denn „das exzellente Preis-Leistungs-Verhältnis“ – so die Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie (BVE) – „die hohe Qualität der Produkte und die Zuverlässigkeit deutscher Hersteller werden weltweit geschätzt.“

Dass die europäische und speziell die deutsche Agrarpolitik an unfairen Import- und Exportgeschäften mit Drittstaaten doppelt verdient, wird hier ebenso ausgeklammert wie die ökologischen und ökonomischen Folgen dieses Geschäftsgebarens. Die Offensichtlichkeit des Sachverhalts hatte dann auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in einem Interview mit der Tiroler Tageszeitung letzten Sommer dazu veranlasst, einen möglichen Zusammenhang der EU-Agrarpolitik mit den Fluchtgründen für Menschen aus Afrika zu bestätigen.

Gegen beides – die Überproduktion und die Verschwendung von Lebensmitteln – sind Anfang dieses Jahres zum siebten Mal in Folge wieder zehntausende Menschen in Berlin unter dem Motto „Wir haben es satt!“ auf die Straße gegangen.

Das Bundesamt für Ernährung und Landwirtschaft versucht währenddessen, der Lebensmittelverschwendung durch die Errichtung der Internetplattform lebensmittelwertschaetzen.de entgegenzusteuern. Auf dieser Seite sind 90 Initiativen zur Lebensmittelrettung, von der Produktion über den Handel bis hin zum gesellschaftlichen Umgang mit Lebensmitteln, vorgestellt. Eine davon ist die Initiative foodsharing.

Das Netzwerk foodsharing

Die Bewegung hat sich 2012 gegründet. Seither rettet sie täglich tonnenweise gute Lebensmittel vor dem Müll. Diese werden ehrenamtlich und kostenfrei im Bekanntenkreis, in der Nachbarschaft, in Obdachlosenheimen, Schulen, Kindergärten und über die Plattform foodsharing.de bedingungslos, wie foodsharing betont, verteilt. Die öffentlich zugänglichen Regale und Kühlschränke, „Fair-Teiler“ genannt, stehen allen zur Verfügung. Bedürftige, die arm sind, aber keine Berechtigung haben, die Tafel zu nutzen oder die aus Scham nicht zur Tafel gehen, können hier in einem geschützten Rahmen auf das Lebensmittelangebot zugreifen. Der Verein versteht sich hierbei nicht als Konkurrent, sondern als Partner der Tafel.

foodsharing wird heute von 200.000 Menschen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz regelmäßig genutzt. Damit wurden bisher knapp 17.000 Tonnen Lebensmittel vor der Entsorgung gerettet – das wären immerhin schon einmal 834 Container weniger auf dem Containerschiff CMA CGM Marco Polo.

Initiativen wie foodsharing, die keinen Profit versprechen, die im Prinzip unrentabel sind, funktionieren, weil ihr Bestand allen Beteiligten am Herzen liegt. Bei foodsharing sind es 32.000 Menschen, die sich ehrenamtlich als Foodsaver*innen engagieren und 4.000 Partner, die mit ihnen kooperieren – darunter Bäckereien, Supermärkte, Kantinen und Großhändler. Die Arbeit der Foodsaver*innen beschränkt sich nicht allein darauf, die überproduzierten Lebensmittel zu verteilen. Sie arbeiten aktiv mit den Firmen zusammen und entwickeln mit ihnen gemeinsam Pläne, wie Überschuss vermieden oder verringert werden kann.

Folgerichtig hat die Initiative auf ihrer Homepage einen Katalog mit Forderungen erstellt, der bezeichnend für ihren Blick auf die ganze Thematik ist: Die einzelnen Forderungen richten sich immer sowohl an die Regierung als auch an die Menschen unseres Landes. So etwa in der Frage nach dem Mindesthaltbarkeits- und Verbrauchsdatum. Die Regierung ist aufgefordert, den Unterschied dieser beiden Fristen verständlich zu machen, denn nach Überschreiten des Mindesthaltbarkeitsdatums kann ein Lebensmittel durchaus noch verzehrt werden, wenn es noch einwandfrei ist. Erst nach Ablauf des Verbrauchsdatums ist der Verkauf eines Produktes nicht mehr zulässig, weil es dann gesundheitsgefährdend sein kann.

Die Verbraucher wiederum sind aufgefordert, beim nächsten Einkauf verstärkt auch nach Produkten zu suchen, bei denen das Mindesthaltbarkeitsdatum fast erreicht ist. Sie werden ermutigt, sich in Zukunft wieder mehr auf ihre Sinne zu verlassen – vor 1981 ging das ja auch.

Und während man von der Bundesregierung verbindliche Zielmarken zur schrittweisen Reduzierung des Lebensmittelabfalls in der gesamten Wertschöpfungskette fordert, um somit das Ziel, den Lebensmittelabfall bis zum Jahre 2030 zu halbieren, nicht nur auszusprechen, sondern auch ernsthaft anzugehen, sind auch wir wieder individuell angesprochen: „Mein Ziel ist es, schon im nächsten Jahr nur noch halb so viel Essen wegzuwerfen wie bisher! Auf meiner Biotonne wird stehen: Was kostete dieser Abfall mich und die Umwelt? Wie kann ich diesen Abfall nächstes Mal vermeiden?“

Foodsharing in Leipzig

Auf der Homepage von foodsharing ist eine Karte mit sämtlichen Fair-Teilern und Essenskörben zu finden; so auch die 7 Fair-Tailer und 2 Essenskörbe in Leipzig. Aktuell gibt es in Leipzig 560 Mitglieder – die meisten davon im Süden – sowie 63 bestehende Kooperationen. Das Team besteht aus Studierenden ebenso wie Menschen im Alter von 30 bis Mitte 40 und älter. Alle, die das 18. Lebensjahr erreicht haben, sind willkommen und können mitmachen, erzählt mir Ada Kaufmann. Sie ist seit knapp 3 Jahren bei foodsharing, hat sich zunächst als Foodsaverin engagiert, übernahm dann als Betriebsverantwortliche ihren ersten Betrieb und ist nun seit einigen Monaten Botschafterin für den Leipziger Süden und Markkleeberg.

Wie alle, so arbeitet auch sie ehrenamtlich. Sie erledigt die Arbeiten für foodsharing nach dem Feierabend oder am Wochenende. Je nach Position hat man mehr oder weniger zu tun, sagt sie. Als Botschafterin hat sich ihr Aufgabenbereich natürlich erweitert. Sie geht nach wie vor Lebensmittel retten, betreut die kooperierenden Betriebe und ist für die Erstellung und Übergabe der foodsharing-Ausweise an den Nachwuchs zuständig. Hier ist sie auch Ansprechpartnerin für Fragen, gibt Hilfestellungen und plant Aktionen in der Öffentlichkeit. 3 bis 10 Stunden, schätzt sie, sind es, die sie wöchentlich für foodsharing aufwendet.

Diese sind es ihr jedoch wert. Seit einigen Jahren bewirtschaftet sie mit Freunden zusammen einen eigenen Garten. Hier lernt sie, den Garten zu pflegen und Lebensmittel anzubauen. Das sensibilisiert nochmals für das Thema Lebensmittelverschwendung, meint Ada. Sie wisse jetzt, wie viel Wasser und Energie darin steckt, Obst und Gemüse anzubauen. Als ihr vor drei Jahren dann eine Freundin von foodsharing erzählt hat, war für sie klar, dass sie die Bewegung unterstützen wolle. Heute bezeichnet sie foodsharing als festen Bestandteil ihres Lebens.

Freundschaften sind entstanden, regelmäßig gibt es Bezirkstreffen und seit 2016 veranstaltet der Verein auf dem Gelände der Malzfabrik in Berlin Tempelhof-Schöneberg jährlich ein Festival mit Workshops, Vorträgen, Kochsessions, Yoga, Musik etc. Dieses Jahr fand dieses Festival am 21.09. – 23.09. statt.

Es sei schön zu sehen, sagt Ada, wenn man mit motivierten Leuten zusammenarbeitet, die Lust auf Veränderungen haben und aktiv am Umweltschutz mitwirken möchten. Man kennt sich und kann sich aufeinander verlassen. Zudem gebe es viele Betriebe, die gut finden, was sie machen und hinter der Sache stehen. Auch der Rückhalt in der Stadt sei sehr groß, denn hier leben viele umweltbewusste Menschen, die bewusst konsumieren.

Besonders geprägt habe sie einmal die Atmosphäre auf dem Verbrauchermarkt am Sportforum an einem Sommertag. „Es war laut, viele Menschen und wahnsinnig viele Lebensmittel, die wir entgegennehmen sollten, davon etliches schon schimmelig und ungenießbar“, erinnert sie sich.

Es roch streng, Dutzende Absprachen mussten gehalten werden, viele Foodsaver hatten sich aufzuteilen und innerhalb von 2 Stunden musste die Arbeit erledigt sein, denn im Sommer verdirbt ja alles viel schneller. Vor allem aber bedrückte Ada der ganze Müll, der am Ende an diesem Platz herumlag. Berge von Verpackungen und verdorbenen Lebensmitteln… „Man wird ja sonst nie damit konfrontiert, aber da wurde mir das ganze Ausmaß erst richtig bewusst“, sagt sie.

Schöne Momente hat sie jedoch immer dann, wenn sie Bedürftigen etwas zu essen geben kann und diese sich darüber freuen. Für sich persönlich hat sie gelernt, im Leben mehr zu teilen und wie wohltuend es ist, auch an andere zu denken.

Mehr Infos zu foodsharing gibt es hier im Netz

Bei Facebook gibt es eine Leipziger Gruppe Foodsharing

Teil 1 – Zu Gast in der GOASE: Über die Geschichte eines florierenden Nachbarschaftsvereines im Nordosten Leipzigs

Zu Gast in der GOASE: Über die Geschichte eines florierenden Nachbarschaftsvereines im Nordosten Leipzigs

Die aktuelle LZ 59, September 2018: Zwischen Überalterung und verschärftem Polizeigesetz: Der Ostdeutsche, das völlig unbegreifliche Wesen

Zwischen Überalterung und verschärftem Polizeigesetz: Der Ostdeutsche, das völlig unbegreifliche Wesen

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar