Gute Bücher leben von der Faszination. Von der Faszination der Leser, vom Begeistertsein des Verlages und vom Fasziniertsein des Autoren von seinem Thema. Wer sich für sein Thema nicht begeistert, sollte kein Buch draus machen. So einfach könnte es sein. Für den Architekten Bernd Sikora und den Fotografen Peter Franke ist das Faszinosum klar benennbar: Zentrum-Nordwest.

So kommt dieses seltsame Stück Stadt im Amtsdeutsch der Stadtverwaltung vor. Genauso wie sich das Grafische Viertel im Zentrum-Ost versteckt oder die Westvorstadt im Zentrum-West. Wer sich nicht auskennt, braucht einen Kompass. Oder er fragt die Leute auf der Straße. Wenn er ins Zentrum-Nordwest will, kann er lange fragen. Fragt er aber nach dem Waldstraßenviertel, weiß jeder, wo es ist. Und was es ist: Seit 150 Jahren die wohl attraktivste und wertvollste Wohnlage in Leipzig. Natürlich ist die ganze Geschichte ein Stück weit länger. Das weiß nicht jeder, der am Goerdelerring die riesige Kreuzung überquert und hinüberschwenkt zum so gern vergessenen Naturkundemuseum, das mal eine der Leipziger Bürgerschulen war.

Auch der alte Straßenname Alte Burg ist verschwunden, der bis zur Umbenennung in Lortzingstraße daran erinnerte, dass hier möglicherweise mal der Ursprung der sorbischen Siedlung lag – mit Wasserburg – deren Existenz in die Zeit vor der ersten urkundlichen Erwähnung von “libsk” zurückreicht. Wer die innenstadtnahen Teile von “Zentrum-Nordwest” begutachtet, hat einige der ältesten Leipziger Siedlungsstrukturen vor Augen – nicht nur die Alte Burg, sondern auch die alte Jacobsparochie mit Angermühle, Jacobs- und Georgenhospital, und auch das schon längst legendäre Naundörfchen, das 1943 in Schutt und Asche gebombt wurde. Richtig alt sind ja auch die Mühlgräben von Pleiße und Elster, die wohl schon im 11. Jahrhundert angelegt wurden.Sikora, der 1986 ins Waldstraßenviertel zog, als auch hier der Abriss der völlig vernachlässigten Bausubstanz diskutiert wurde, hat sich in den Jahren seither intensiv mit der Geschichte des Viertels beschäftigt, das sich nur auf den ersten Blick als homogenes, gutbürgerliches Quartier darstellt. Auf den zweiten tauchen die historischen Spuren, Verluste und Überbauungen auf. Man landet mitten im längsten Kapitel zur Historie der Wasserstadt Leipzig. Denn Wasser spielte hier bis weit ins 19. Jahrhundert die Hauptrolle. Auch die berühmten Gärten von Apel, Bose und Gerhardt wurden im Grunde jedes Jahr nach der Schneeschmelze überflutet. Gleich vor den westlichen Mauern der Stadt war echtes Auenland. Und die alten Flüsse und Verbindungsgewässer wanden sich ohne gerade Linie durch fruchtbare Wiesen und Auen.

Das war bis Mitte des 19. Jahrhunderts so. Bis ein gewisser Dr. Carl Heine daran ging, erst einmal die Westvorstadt mit Straßen und Brücken zu versehen und zu bebauen und dann begann, in Plagwitz gewaltige Erdmassen abzutragen, um damit die Auen westlich der Stadt um bis zu zwei Meter aufzufüllen. Wozu er extra einen Kanal baute, auf dem er sogar mit Dampfschiffen bis an die heutige Ringpromenade fahren konnte – und auch fuhr. Es war eine Hauptattraktion der 1860er Jahre, mit Carl Heines Dampfschiffen von Leipzig nach Plagwitz zu fahren.

Mehr zum Thema:

Wenn’s grünt und plätschert in der Stadt: Leipziger Wasser- und Parklandschaften
Bücher zu Leipziger Parks, Gärten und …

Architektur zum Erlaufen und Bestaunen: Leipzigs Historismus zum Falten
Nein, das Wort Gründerzeit steht nicht …

Noch eine Fuhre hartnäckiger Typen: Leipziger Kulturköpfe, Teil zwei
Städte sind Sammelpunkte für …

Ein Hohelied auf die Türmchen von Leipzig: Ein Blick nach oben
In den letzten Tagen sah man sie …

Kleine Wiederauferstehung in einem Buch: Das verlorene Leipziger Westviertel
Ein Fußweg schlängelt sich von der …

Und mit den Besitzern der anderen Ländereien rechts und links des alten Ranstädter Steinweges machte Heine gute Geschäfte, indem er ihnen zum Aufschütten ebenfalls den berühmten Carl-Heine-Knack verkaufte. Sikora weist ganz beiläufig darauf hin, dass man an den Ufermauern des heutigen Elstermühlgrabens am Liviaplatz noch sehr gut sehen kann, wie hoch das Gelände auf den einstigen Fregeschen Besitzungen aufgeschüttet wurde, um darauf Straßen und Häuser bauen zu können. Etappenweise, wie man mit architektonisch geschultem Auge sehen kann. Das Wohnquartier, das erst spät seinen Namen Waldstraßenviertel bekam – wuchs mit dem Wohlstand und einigen krisenbedingten Unterbrechungen noch bis ins 20. Jahrhundert hinein.

Sikora schildert diese Etappen und die jeweils federführenden Akteure mit all dem Wissen, das einer sich sammelt, wenn er erst einmal zehn Jahre lang um die Rettung des Viertels gekämpft hat und ab Mitte der 1990er Jahre als Architekt in die Sanierung Dutzender wertvoller Baudenkmäler eingebunden war. So kennt er die Unterlagen aus den Bauarchiven, hat sich mit den alten Trockenlegungs- und Straßenplänen beschäftigt, da und dort auch mit den berühmten Bewohnern des Viertels. Und immer wieder auch mit der labilen Wasserlage. Denn wirklich hochwassersicher war das Gebiet auch nach 1855 nicht, als man die Elster, die sich bis dahin in Mäandern mitten durchs heutige Waldstraßengebiet schlängelte, begradigte. Die neue, schnurgerade Elster, die damals kurz vor der Weststraße (Friedrich-Ebert-Straße) nach Norden abknickte und immer gerade aus Richtung Rosental floss, erkennt man heute nur noch an den parallelen Baumreihen am Sportforum. 1926 wurde sie im Rahmen der neuen Flussregulierungen, bei denen das Elsterflutbett entstand, zugeschüttet.

Und nun steht sie seit 2002 wieder im Hochwasserschutzkonzept der Stadt und soll geöffnet werden, wenn mal wieder Geld dafür zur Verfügung steht.

Kein Geringerer als Ringelnatz wuchs ja an der “Alten Elster” auf, die auch zu seiner Zeit schon die neugebaute “Alte Elster” war. Und schrieb ein echtes Ringelnatz-Gedicht darüber.Die Fotos von Bernd Franke zeigen dem Leser in eindrucksvoller Schönheit, worüber Sikora da schreibt. Manche der Fotos zeigen auch den Fotografen wieder als einen vom Viertel und seiner Umgebung Faszinierten. Da verirrt er sich bei Nebel in die Rosentalgasse, erlebt den Frühling in den grünen Innenhöfen. Auch das ist ja etwas, was der nicht hier wohnende Spaziergänger gar nicht wahrnimmt. Einige Straßen – wie die einst extrabreit und mit Reitwegen angelegte Waldstraße – sind zwar mit Straßenbäumen bepflanzt. Aber insgesamt zeigt das Viertel kaum Grün. Es verbirgt sich im Inneren der hochherrschaftlichen Häuserblöcke, in die einst die gut betuchten Kaufleute, Anwälte und Professoren Leipzigs zogen. Hier findet man heute noch über 100 Jahre alte Gartenhäuser und Remisen, einige längst umgebaut zu attraktiven Wohnhäusern.

Da und dort findet man auch noch Spuren der kleinen Fabriken, die es im Waldstraßenviertel auch einmal gab. Viele siedelten sich ab 1858 auf den zugeschütteten Altarmen der Weißen Elster an. Auf einem solchen Grundstück etablierte sich auch die erste Leipziger Verkehrsgesellschaft – die “Omnibusgesellschaft Heuer”, 1860 mitgegründet von keinem anderen als jenem allgegenwärtigen Dr. Carl Heine. Die Pferdeomnibusse rollten von Plagwitz über Leipzig nach Reudnitz. Die Leipziger Verkehrsbetriebe dürfen dieses Gründungsjahr freilich nicht für sich verbuchen. Sie müssen das Jahr 1872 als Beginn ihrer Arbeit nehmen, als ein englischer Unternehmer in Leipzig ein eigenes Netz von Pferdebahnen aufbaute.

Wer das reich und farbig bebilderte Buch von Sikora und Franke gelesen hat, geht mit anderen Augen durchs Waldstraßenviertel, schaut ganz bestimmt genauer hin und beschaut sich einige Plätze wie die Kreuzung der Friedrich-Ebert-Straße mit der Jahnallee mit anderen Blicken. Hier war bis 1925 die Hohe Brücke, die im Verlauf der Jahnallee (Frankfurter Straße) über die Alte Elster führte. Ein Stück weiter, wo heute die “Arena” steht, war lange Zeit der Leipziger Messplatz, der so tief lag, dass nach großen Sommerüberschwemmungen die Kinder hier in echten Seen baden konnten.

Bestellen Sie dieses Buch versandkostenfrei im Online-Shop – gern auch als Geschenk verpackt.

Das Leipziger Waldstraßenviertel
Bernd Sikora, Verlag Edition Leipzig 2012, 29,90 Euro

Der Bildband ergänzt natürlich auch die ebenfalls von Sikora betreuten Bildbände “Jugendstil & Werkkunst”, “Leipziger Wasser- und Parklandschaften” und “Industriearchitektur in Sachsen”. Die Bände zeigen, wieviel Geschichte in Leipzig mittlerweile in sanierter Schönheit zu sehen ist. Sie lassen auch ahnen, was hinter Zäunen und Mauern, in Häusern und Innenhöfen gerettet wurde und wieder Lebens- und Wohnqualität ausmacht, für die die Besserbetuchten heute auch wieder bereit sind, ein bisschen mehr Geld auszugeben. Zwischen den Wassern gelegen, gehört das Waldstraßenviertel – nachdem es vor 15 Jahren noch Fördergebiet war – heute zu den beliebtesten Leipziger Wohnvierteln. Mit folgerichtigen Problemen bei fehlenden Kindertagesstätten und Schulen.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar