Zu einer opulenten Ausstellung gehört auch ein opulenter Katalog. Den gibt es auch zur Ausstellung "Umsonst ist der Tod ...", die seit dieser Woche im Stadtgeschichtlichen Museum zu sehen ist. Aber auch im Katalog gibt es keinen signifikanten Hinweis darauf, warum die Ausstellung diesen närrischen, wenn nicht gar fahrlässigen Titel bekommen hat.

Der Untertitel ist natürlich länger und auch nicht so einprägsam: “Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation”. Im Katalog steht dann noch die notwendige Ergänzung im Titel: “in Mitteldeutschland”. Denn hier geht es um ein ganz bestimmtes Stück Regionalgeschichte, nicht um Bayern, Schwaben oder Rheinland, wo die Zeit vor der Reformation längst wesentlich besser dokumentiert ist. Auch nicht Preußen oder Mecklenburg, die für das, was in den damaligen Gebieten der heutigen Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen passierte, praktisch keine Rolle spielten.

Und den Wissenschaftler Hartmut Kühne hat das auch nicht interessiert, als er sich 2008 in das Forschungsprojekte stürzte. Er wollte wissen, was in dieser Region an religiöser Überlieferung für die Zeit kurz vor dem Lutherschen Thesenanschlag 1517 zu finden ist. Wie war das Kirchenleben? War der Unmut über Papst und Ablass tatsächlich so groß? Oder war es eine Zeit der Erstarrung, der dumpfen Gläubigkeit? War es höchste Zeit, dass einer kam, der alles umwälzte? Wie lebten die Gläubigen in Mühlhausen, Leipzig, Magdeburg ihren Glauben? Und wie stark war das tägliche Leben von Kirche durchdrungen?

Eine Menge Fragen, die in der Ausstellung und im Katalog natürlich sehr ausgiebig beleuchtet werden. Viele der 300 gezeigten und beschriebenen Stücke lagen lange Zeit unbeachtet in den Archiven, interessierten auch die Forscher nicht, weil sich alles auf Luther und seine Zeit konzentrierte.
Doch so langweilig, wie die Zeit kurz vor dem Thesenanschlag zumeist geschildert wird, war sie gar nicht. Nur anders, sehr frömmig, wie die Autoren immer wieder betonen. Aber frömmig eben nicht im Sinne von frömmelnd. 57 Autoren haben mitgeschrieben an diesem Katalog, der eher eine Sammlung kleiner wissenschaftlicher Aufsätze ist. Denn mit jedem der 300 Ausstellungsstücke wird sich auseinandergesetzt. Manches enthüllt erst im Text seine Farbenpracht und Bedeutung. Deswegen kann man nicht einfach nur schauend durch die Ausstellung schlendern. Man muss sich auf die vielen Texte, Erklärungen und Videoangebote einlassen, die die Ausstellungsstücke erst einmal einordnen in die Zeit.

Denn die wird erst lebendig, wenn man begreift, was alles etwa im Testament des Dr. Johannes Seeburg zu finden ist (zum Beispiel der komplette Hausrat eines Gelehrten und Aufsteigers dieser Zeit) oder was alles in der Reliquienkapsel von Planschwitz steckt. Und was bitteschön ist eine Pavese? – Ein halbes Dutzend Pavesen sind in der Ausstellung zu sehen und der Besucher taucht ein in das mittelalterliche Erfurt, in dem die Stadtverteidigung in den Händen der Bürger selbst lag – eine dringende Notwendigkeit in kriegerischer Zeit, aber gleichzeitig Zeichen einer wehrhaften Stadt. Und die Religion war auch hier präsent – in Form eines Heiligen Christopherus.

Die Welt war so eng nicht, wie man sie sich gern vorstellt. Im Gegenteil: Wer es sich leisten konnte, reiste. Zwar nicht nach Amerika, aber dafür nach Rom, Santiago de Compostela und ins Heilige Land. Eine kleine Überraschung für den neuzeitlichen Besucher: Schon im 14. Jahrhundert gab es etliche Reisebeschreibungen, die den Pilger über alles informierten, was er wissen musste. Im Grunde schon echte Reiseführer. Nur dass der “Tourismus” der Zeit zutiefst religiös motiviert war. Wie das ganze Leben. Pilgerzeichen erzählen von den vielen, oft freiwillig absolvierten Pilgerfahrten auch zu Zielen in Deutschland. Auch bei Leipzig gab es mit dem Kloster Eicha ein beliebtes und vom Kurfürsten gefördertes Pilgerzentrum.

Das Kapitel “Ablass” wurde in der Ausstellung und im Katalog ganz ans Ende gestellt. So ein bisschen aus der Motivation heraus, dass es der Ablasshandel war, den Luther besonders anprangerte und der ihn seine berühmten 95 Thesen schreiben ließen. Auch hier schildern Hartmut Kühne und der Leipziger Historiker Enno Bünz im Einstiegstext, wie der Ablass schon 200 Jahre vor Luther in die Kirche kam, entwickelt ursprünglich aus einem rein mönchischen Bußsystem, das sich immer mehr zu einer großen Geldbeschaffung für Päpste und Fürsten entwickelte. Beide gerieten zunehmend – auch in Sachsen – in Konkurrenz zueinander. Doch ehe Luther das ganze System infrage stellen konnte, entstand sogar noch eine ganze Literatur mit Ablassverzeichnissen. Man musste nur die richtigen Höhepunkte wahrnehmen und konnte sich regelrecht eindecken mit Ablässen. Einige Pilgerorte besaßen sogar regelrechte Sammelablässe.

Nimmt man die im vorhergehenden Kapitel beschriebenen “Liturgischen Inszenierungen” hinzu, bekommt man ein Gefühl dafür, wie sehr das ganze Leben von der Kirche und ihren Riten geprägt war. Selbst im Haus war der Glaube stets präsent. Und auch wenn der Klerus eine dominante Rolle spielte, war das 15. Jahrhundert auch eine Zeit, in der die Stadtobrigkeiten allerorts bestrebt waren, mehr Einfluss auf ihre Pfarrkirchen, ihre materielle und personelle Ausstattung zu bekommen. Denn sie waren eindeutig der Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens und der gesellschaftlichen Präsentation. Hier zeigte man sich – und hier zeigte man, was man hatte.

Am Ende zeigt selbst diese Auswahl schon, dass da auch schon vor Luther eine Menge los war in Sachen Religion und Gesellschaft. Und einige Diskussionen, die Luther aufgriff, wiesen zwingend auf eine andere Zeit mit anderen Grundmustern. Der Humanismus bestimmte die Diskussion der Zeit. Nicht mit Rationalität oder gar Aufklärung zu verwechseln. So weit war man noch nicht. Die Formulierungen für ein gottgefälligeres Leben verbanden sich durchaus auch mit dem Glauben an Zeichen und Wunder, die sich sogar vermehrten in dieser Zeit. Ein faszinierendes psychologisches Moment, diese enge Verquickung aus Endzeitstimmung und dem zunehmenden Wunsch nach Veränderung.

Bestellen Sie dieses Buch versandkostenfrei im Online-Shop – gern auch als Geschenk verpackt.

Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland
Michael Imhof Verlag 2014, 29,95 Euro

Das geschah in Mitteldeutschland zwar sichtlich etwas anders als zeitgleich etwa in Italien. Aber auch hier erlebte die Kunst eine neue Blüte. Maler und Bildhauer traten aus der alten mittelalterlichen Anonymität heraus. Und in den Schätzen der Kirchen spiegelte sich auch das zunehmende Selbstbewusstsein der Stadtbürger. Der junge Bruchdruck brachte die Auseinandersetzungen erst recht voran. Fortan wurde nicht mehr in geschlossenen Kreisen getagt. Mit Flugblättern erfuhr eine zunehmend größere Öffentlichkeit von dem, was geschah.

Natürlich kann so ein Katalog nicht alle Wurzeln untersuchen, aus der die Neuzeit geboren wurde. Aber etliche werden hier sichtbar. Selbst in Urkunden, Testamenten und Tafelbildern. Die Bürger ließen sich praktisch mitten hinein malen ins Heilige Leben, wurden jetzt selbst zu Jüngern an der Seite Jesu. Das war schon vor Cranach so. Für die meisten Zeitgenossen wird das alles wohl noch immer als ein Teil der alten Frömmigkeit erschienen sein. In der Rückschau, mit dem Wissen um die Veränderungen ab 1517, zeigt sich im Alten schon auf vielfältige Weise das Kommende. Das ist der Vorteil der Historiker: Sie können die Geschichte im Nachhinein lesen.

Zeitgenossen haben immer das Pech: Sie erkennen meistens nicht, was von dem, das um sie herum geschieht, schon von der nächsten Zeitepoche kündet. Manchmal braucht es dann einfach einen sturen Theologieprofessor, der all die angerissenen Fragen aufnimmt und bündelt. Nicht ahnend, was er damit alles ins Stürzen bringen würde. Aber anders kommen die neuen Zeiten nicht aus der alten heraus.

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar