Da und dort haben engagierte Leipziger Historiker in den letzten Jahren auch schon ein bisschen hineingeleuchtet in die Finsternis der zwölfjährigen NS-Herrschaft in Leipzig. Jeder Beitrag eine neue Bestätigung für die Vermutung, dass diese scheinbar medial so gut erschlossene Zeit tatsächlich in weiten Teilen terra incognita ist. Auch weil nach 1945 eine Menge Leute vergessen wollten. Auch die Tatsache, dass tausende Zwangsarbeiter auch in Leipzig für den deutschen Krieg schufteten.

Was die nächste gern vergessene Tatsache einschließt: dass Leipzig ein wichtiger Standort der deutschen Rüstungsindustrie war – maßgeblich etwa Großbetriebe wie die HASAG, die Erla-Werke, aber auch die Junkers Werke produzierten in Leipzig. Auch zuvor zivile Betriebe wie die Rudolf Sack KG wurden auf die Bedürfnisse der Kriegswirtschaft umgestellt. Im Grunde ist die Zeit überreif, auch einmal die Landschaft der Leipziger Kriegsgüterproduktion zwischen 1933 und 1945 zu zeichnen, der involvierten Unternehmer und da und dort auch ihrer späteren Karrieren zumeist in Westdeutschland. Denn mit dem Krieg haben sich einige von ihnen mehr als nur eine goldene Nase verdient.

Manche auch schon vor 1939, als sie sich am Vermögen jüdischer Unternehmer bereicherten. Stichwort “Arisierung”. Ein Forschungsprojekt dazu ist bislang noch in ersten Anfängen stecken geblieben. Auch diese Landschaft wäre überfällig zu zeichnen auf einer großen Leipzig-Karte: der organisierte Raubzug am Eigentum jüdischer Mitbürger.

Und das Thema, mit dem sich Florian Schäfer (Historiker) und Paula Mangold (Kulturwissenschaftlerin) in diesem Buch beschäftigen, harrt genauso einer systematischen Aufarbeitung. Und es gehört zu den finstersten Kapiteln in der Leipziger NS-Geschichte. Die beiden jungen Wissenschaftler kooperieren eng mit der Gedenkstätte Zwangsarbeit Leipzig und führen selbst Stadteilrundgänge zum Thema durch. Für ein komplettes, stadtumfassendes Buchprojekt würde es wahrscheinlich eines echten Sponsorings bedürfen. Im Vorwort nennen sie die Zahlen, die wahrscheinlich für Leipzig das Thema beschreiben: Bis 1943 kamen in Leipzig rund 60.000 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter zum Einsatz, bis zum Kriegsende 1945 wahrscheinlich sogar rund 100.000. Sie waren in etwa 400 Lagern im ganzen Stadtgebiet untergebracht – einige davon extra errichtet als Barackenlager. Eines davon, an der Märchenwiese gelegen, beschreibt Florian Schäfer im Buch. Ein anderes stand auf dem Kleinmessegelände in Lindenau.

Aber die Lager entstanden zumeist schon in einer Zeit, in der das Baumaterial knapp wurde. Viele Zwangsarbeiter wurden deshalb auch in provisorischen Unterkünften, etwa in ehemaligen Gaststätten, untergebracht. Die hygienischen Bedingungen waren in der Regel katastrophal. Wobei es die Verantwortlichen fertig brachten, die zur Zwangsarbeit Gepressten je nach Herkunft auch noch unterschiedlich streng zu schikanieren. Die übelsten Schikanen mussten die Kriegsgefangenen aus den sowjetischen Gebieten erleiden. Ihre Lebenserwartung lag, wenn sie zur Zwangsarbeit in Leipzig eintrafen, in der Regel bei maximal einem Jahr.

Die Nahrungsversorgung war entsprechend miserabel, die Versorgung mit Kleidung ebenfalls. Die Arbeitszeiten waren extrem lang und einige Unternehmer – exemplarisch nennt Schäfer die Firma Richter & Co. am Connewitzer Kreuz – behandelten die ihnen zugeteilten Zwangsarbeiter besonders rücksichtslos und gewalttätig.

Was selbst aus dem kruden wirtschaftlichen Denken der NS-Machthaber nicht wirklich zu erklären ist, denn spätestens mit den massiven Einberufungen der einheimischen Facharbeiter zur Wehrmacht ab 1941, als der Krieg in der Sowjetunion begann, Menschen und Material in neuen Größenordnungen zu verschlingen, wurden die gezwungenen Arbeitskräfte dringend gebraucht, um die Produktion in Deutschland überhaupt noch am Laufen zu halten. Die Rüstungsproduktion sowieso, die ab 1942 ihren Ausstoß noch deutlich erhöhen musste. Aber wahrscheinlich hat die da seit Jahren anhaltende Propaganda vom “Herrenmenschen” bei etlichen Zeitgenossen alle Rücksicht zerstört.

Während Florian Schäfer in einem kleinen Rundgang durch Connewitz einen Teil der dort nachweisbaren Zwangsarbeiterlager und die dort herrschenden Bedingungen beschreibt, tut Paula Mangold das ausschnittweise für Lindenau. Zwei kleine Karten sind dem Buch beigegeben, die die Rundgänge nachvollziehbar machen. Einige Themen können die beiden nur anschneiden, etwa die Rolle der Arbeitsämter, die ab 1939 in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten sofort begannen, Arbeitskräfte für die deutsche Industrie zu werben oder – dann wohl die Regel – zu pressen. Doch der größte Teil der auf diese Weise in Leipzigs Unternehmen zur Arbeit Gezwungenen waren Kriegsgefangene im Grunde aus allen Regionen, in denen damals deutsche Truppen wüteten – Belgier, Franzosen und Polen genauso wie Gefangene aus Böhmen, Mähren, Kroatien, auch Italiener und Engländer. Die NS-Wirtschaft nutzte die Millionen Kriegsgefangenen rücksichtslos dazu, ihren eigenen Krieg am Laufen zu halten.

Ein Fakt, den die Bundesrepublik jahrzehntelang nicht anerkennen wollte. Als sie sich in den letzten Jahren dazu aufraffte, den ehemaligen Zwangsarbeitern überhaupt eine kleine Entschädigung zu zahlen, waren die meisten längst gestorben. Oder konnten die Zeit ihrer Zwangsarbeit nicht mehr nachweisen, weil sie sämtliche Dokumente dazu vernichtet hatten – wie viele russische Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter, die bei ihrer Rückkehr ins stalinsche Reich selbst wieder Repressalien erlebten und als “Kollaborateure” behandelt wurden.

Aber auch in deutschen Archiven haben sich wichtige Materialien oft nicht erhalten. Einige Vorgänge können die beiden Autoren nur summarisch andeuten – etwa die Bestrafungssystematik, die in Kraft trat, wenn Firmeninhaber ihre Zwangsarbeiter bei der Gestapo anzeigten, was dann für den Betroffenen in einen wochenlangen Aufenthalt in einem “Erziehungslager” oder auch direkt in einem KZ enden konnte. Schäfer und Mangold versuchen das allgegenwärtige Thema, dass sowohl Frauen als auch Männer in Leipzig zur Zwangsarbeit eingesetzt wurden, mit der künstlichen Schreibweise Zwangsarbeiter_innen zu umschreiben. Vielleicht lernt man das an der Universität heute so. Aber die Schreibweise offenbart gerade in ihrer häufigen Verwendung, dass sie für einen lesbaren Text völlig ungeeignet ist. Und es wird auch deutlich, dass damit die existierenden Unterschiede tatsächlich verkleistert werden. Zum Beispiel diese, dass es eben zumeist reine Männer-Lager und reine Frauen-Lager gab und eine gemischte Belegung eher die Ausnahme darstellte.

Angedeutet werden auch die Beziehungen der zur Zwangsarbeit Gezwungenen zur  einheimischen Bevölkerung, da und dort auch zu den einheimischen Belegschaften. Aber auch dazu gibt es nicht viel Material, denn diese Beziehungen standen für beide Seiten unter Sanktion. Existieren die Verhörprotokolle und Gerichtsakten überhaupt noch, die sich mit diesem Thema beschäftigen? Immerhin gab es diese Beziehungen, die auch teilweise in gemeinsamen Widerstand mündeten – wie beim “Internationalen Antifaschistischen Komitee”, dessen Mitglieder 1944 verhaftet wurden.

Weniger dokumentiert sind die alltäglichen Begegnungen der einheimischen Bevölkerung mit den Zwangsarbeitern. Denn begegnen mussten sie sich ja – die Lager lagen mitten in dicht bewohnten Stadtquartieren, die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter mussten in der Regel zu Fuß in die Betriebe laufen, wo sie eingesetzt waren.  Sie waren schlicht unübersehbar. Und das traf wohl auch auf die Menschen zu, die in den Außenlagern der großen deutschen KZs in Leipzig gehalten wurden. Solche gab es zum Beispiel in Markkleeberg oder auf dem Gelände der HASAG. Womit das Thema KZ ebenfalls im Alltag der Bevölkerung präsent war. Niemand konnte sagen, er hätte davon nichts mitbekommen.

Auch bei den kräftezehrenden Wiederaufbauarbeiten nach den diversen Bombenangriffen auf Leipzig wurden die Zwangsarbeiter eingesetzt. Erst die schnelle Repatriierung durch die späteren Besatzungsmächte ließ die Frauen und Männer, die jahrelang für die deutsche Kriegswirtschaft geschuftet hatten, aus Leipzigs Stadtbild verschwinden. Sie kehrten nach Hause zurück, wenn es dieses Zuhause noch gab.

Schäfer und Mangold haben sich mit dem Thema schon während ihres Studiums beschäftigt. So wird wenigstens ein Teil dieses dunklen Kapitels wieder sichtbar. Direkt im Ortsteil, wo in der Regel nichts mehr daran erinnert, was hier in den dunkelsten Jahren des 20. Jahrhunderts geschehen ist.

* Stichwort “Oktober-Bibliothek”: Vorm Einsatz des neuen CMS der L-IZ gingen auch alle Buchrezensionen aus dem Oktober 2014 im großen Chaos der Digitialmaschine verloren. Also veröffentlichen wir sie in den nächsten Tage noch einmal für alle, die sie schon schmerzlich vermisst haben.

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