Darf man Kinderlieder verballhornen? Darf man Kindern erlauben, diese schönen Klassiker zu entstellen, freche, rotzfreche Texte zu singen, statt ein braves "Entchen klein"? - Gute Frage, Herr Freud. Aber vielleicht hätte Dr. Freud daran sogar seine Freude gehabt und hätte mitgesungen: Lass es raus, Kind! Hör auf, ein braver Schleimer zu sein!

Deswegen gibt es natürlich trotzdem haufenweise Kinderlieder, die schon längst umgetextet sind. Manche dieser Umtextungen sind längst Klassiker, weil der närrische Urtext geradezu zum Umtexten zwingt. Es ist das süßliche 19. Jahrhundert, das heute noch immer in manchen deutschen Kindergärten und Kinderzimmern zu Hause ist. Als man Kinder noch als goldlockig, pausbäckig und wohlerzogen bezeichnete, kleine Englein, die man mit Verniedlichungen möglichst lange infantil hielt. Mit Schäfchen und Entchen und Vögelein.

VÖGELEIN!!!!

Kann es sein, dass Kinder in Deutschland 200 Jahre lang veräppelt wurden und grinsende alte Männer wie Butter zerflossen, wenn sie Mägdlein und Knäblein ihre süßlichen Liedlein trällern hörten?

Dass Kinder so nicht sind, wissen zumindest Kinder. Und Eltern, die wirklich hinhören und wissen, wie schwer es ist, die kleinen Rangen wieder zur Raison zu rufen, wenn sie mal wieder mit Herzenslust Sch*** sagen, K***, P*** und alle diese anderen schönen, kraftvollen Wörter, mit denen man nicht nur bei Gleichaltrigen Eindruck schinden kann. Den Spaß kennen auch Erwachsene, auch wenn sie es eher selten zugeben. Man lese nur die herrlich derbe Geschichte von “Gargantua und Pantragruel” oder die eine oder andere tolldreiste Geschichte von Balzac.

Es liegt also recht nah, dass die kreuzbraven Sangesweisen des Biedermeier (das in Deutschland ja bekanntlich nie zu Ende gegangen ist) schon früh auch die Kreativität der Kinder herausgefordert haben. Die Umtextungen von “Schlaf, Kindchen, schlaf” kannten auch schon die Großeltern und Urgroßeltern der heutigen Knirpsengeneration. Dasselbe gilt für das Indianer-Lied “Von den blauen Bergen kommen wir”. Beide Varianten, die Werner Holzwarth mit in diesen Band aufgenommen hat, dürften den jungen und älteren Sängern wohl vertraut sein. Erstaunlich ist, dass die beliebteste Weise zu “O Tannenbaum” nicht erscheint, zumindest die, die in den mittleren Breiten gern gesungen wird: “… der Lehrer hat mich blaugehaun”.

Darf man das nicht mehr singen? Ist die Zeit darüber hingegangen? Oder kennt es Werner Holzwarth gar nicht? Immerhin war der Klett Kinderbuch Verlag richtig froh, dass man den  Werbefachmann und Kinderbuchautor Werner Holzwarth für das Buch als Texter gewinnen konnte. 40 Kinderlied-Klasiker hat er umgetextet. Da und dort schimmern die schon von Generationen von Kindern gern gesungenen Varianten durch. Vieles aber hat er augenscheinlich neu betextet und hat versucht, das Ganze aus frecher Kinderperspektive zu sehen. Das ist schwer. Wie versetzt man sich zurück in die kindliche Perspektive? Geht das überhaupt, wenn einer Jahrgang 1947 ist? Oder kollidieren da Welten?

Tun sie tatsächlich. Man merkt es beim Lesen. Denn das Kind, in das sich Werner Holzwarth zurückversetzen kann, ist er ja selbst – ein Kind der 1950er Jahre. Das prägt. Welches Kind muss heute noch seine Tanten küssen? Und welches Kind würde das Wort Gäule verwenden? Oder Väschen? Oder Revolver? Oder Ritterkampf?

Und auch ein anderes Problem hat der große Junge: Er ist zu brav, zu wohlerzogen. Kein Kind würde sagen: Das langweilt mich zu sehr. Oder gar: “Dieses Spiel ist lächerlich.”

Opa, du hast zu viel gelesen, würde wahrscheinlich so ein richtiges Monster sagen. Seit wann erbleichen Kinder? Oder sagen etwas unverhohlen? Da müssen selbst erwachsene Leser ins Wörterbuch gucken. Und stibitzen? Ist das nicht wirklich noch braves Wirtschaftswunderland?

Es ist ein richtiges Opa-möchte-wieder-ein-Räuber-sein-Buch.

Richtig frech will er sein und ist es auch. Aber eins steht auch fest: So anarchisch und frech wie die kleinen Monster kann man nimmer werden, wenn man erst mal groß ist. Es geht einfach nicht. Wahrscheinlich, weil diese herrliche Unbekümmertheit weg ist, die alle Regeln missachtet und die political correctness sowieso.

Wie sehr hätte man es dem Liedtexter gegönnt, dass er’s schafft: Noch einmal so richtig raus aus der Haut, so unverschämt sein wie ein Kind.

Aber die Erkenntnis für uns Ausgewachsene ist wohl: Es gibt kein zurück. Wir stehen alle bedeppert auf der anderen Seite, schauen mit Bangen und Sorgen und Strenge auf die kleine wilde Brut, versuchen sie vor Unglücken zu retten (und vor strengen Tanten), versuchen uns mit Schabernack einzuschleimen (so wie Opa in “O Tannenbaum”), uns selbst auf den Arm zu nehmen. Bestimmt findet das der eine oder andere Enkel witzig. Aber es wird nimmer, nimmermehr so wild und rücksichtslos, wie Kinder wirklich sein können, wenn es ums Dreckigmachen, um schmutzige Füße, Spucken, Pupsen, Pieseln, Kacken und all die anderen Dinge geht, die so richtig unfein sind.

Die kleine Distanz hört man dann auch auf der beigelegten CD, auf der alle Lieder noch einmal eingesungen sind. Sehr brav, keine Frage. Richtig lieb. Sind ja auch haufenweise schwere Worte im Text. Und viele Opa- und Papa-Probleme. Unüberhörbar. Wie in “Es plappert das Kindchen am laufenden Band” oder “Guten Abend, gute Nacht” (wo ein Vater das Kind schnell zum Einschlafen bringen will, weil er seinen Krimi nicht verpassen will).

Vielleicht sollte Papa mit dem nimmermüden Kind doch erst mal herumalbern und richtige alberne Kinderlieder singen? Aus voller Kehle und ohne Rücksicht auf die Frisur?

Es ist wirklich nicht leicht, sich wirklich zurückzuversetzen in die wilde, unbekümmerte Sicht der Kinder auf die Welt. Erfrischend ist, dass man wirklich vor keinem dieser alten Texte zurückschrecken muss. Sie malen eine zuckersüße Kinderwelt, die es so nie gab – außer in den Erziehungsratgebern älterer Fräuleins. Die Illustrationen von Lilli L’Arronge zeigen, wie wild und unbekümmert Kindsein ist und dass Eltern durchaus gut beraten sind, immer das Schlimmste zu befürchten. Denn in der Regel müssen sie es ja wieder aufräumen, sauberputzen  oder ausbaden. Aber wer davon ausgeht, dass Kinder kleine Anarchisten sind, der liegt nicht falsch.

Und vielleicht sollte man einfach mitschreiben, wenn die Biester das nächste Mal wieder Lieder verballhornen. Es könnte der richtige Text sein.

Am Montag, 22. September, kommet das Buch in die Läden, da kann man es füglichst erwerben. Oder treulichst.

Werner Holzwarth “Leise pieselt das Reh, Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2015, 19,95 Euro.

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