Dieses Büchlein von Armin Kohnle erscheint zwar in der EVA-Reihe „Theologie für die Gemeinde“, in der sonst eher Titel auftauchen wie „Warum Gott?“, „Wo der Glaube wohnt“ oder „Ein Buch mit sieben Siegeln?“. Aber das Büchlein dürfte auch Nichtgemeindemitglieder interessieren, die alles Wissenswerte zum großen Reformationsjahrhundert einmal kompakt in Händen halten wollen.

Denn es gab ja nicht nur diesen Dr. Martin Luther, der mit seinen 95 Thesen die ganze Sache mehr oder weniger ungewollt ins Rollen gebracht hat. Es hätte auch schiefgehen können wie 102 Jahre vorher mit Jan Hus. Manchmal muss die Zeit einfach reif sein, damit die Dinge in Bewegung kommen. Und gerade die jüngeren Debatten der Historiker drehen sich ja um die Frage: Ist Luther nun der Endpunkt einer Entwicklung, die über 100 Jahre schon gärte, und damit eigentlich nur der richtige Mann zum entscheidenden Zeitpunkt? Oder war er einzigartig und kein anderer hätte die Entwicklung so in Gang bringen können?

Das ist eine von diesen rein theoretischen Fragestellungen, über die sich Generationen von Historikern zerfetzen können – und die nicht beantwortbar sind. Denn Geschichte ist viel zu komplex, um sie auf so simple Antworten reduzieren zu können. Einer wie Dr. Armin Kohnle weiß das. Das ist sein Stoff. An der Theologischen Fakultät der Uni Leipzig betreut er seit 2009 den Lehrstuhl für Spätmittelalter, Reformation und territoriale Kirchengeschichte. Und er geht in diesem Büchlein nicht nur auf die Reformation und ihre Folgen ein, sondern streift auch kurz die Vorgeschichte und den im ganzen 15. Jahrhundert gärenden Unmut über den Zustand der Kirche. Spätestens ab 1456 waren auch die deutschen Reichsfürsten höchst unzufrieden mit Zustand und Gebaren der römischen Kirche und machten das mit offiziellen Beschwerden deutlich, die sich zum Ende des Jahrhunderts deutlich mehrten.

Als Luther 1517 den Ablasshandel ins Visier nahm, benannte er ein zentrales Thema der Zeit, stieß aber auch gleich ins Herz des Glaubensverständnisses vor, denn Fegefeuer und Ablass gehörten ganz bestimmt nicht zum alten biblischen Kanon. Und loskaufen konnte sich auch nach den Worten Jesu niemand von seiner Sünde. Vergeben konnte nur einer. Gerechtigkeit konnte man sich bei Gott nicht erkaufen, man bekam sie als Geschenk. Es kam also nicht wirklich aus heiterem Himmel, was der Wittenberger Theologieprofessor da 1517 an die Tür der Schlosskirche schlug, auch wenn er in dem Moment wohl noch glaubte, einzig und allein eine wissenschaftliche Disputation anzustoßen. Von dem, was folgte, war Luther zuallererst überrascht. Und das Erste, was geschah, war die Verbreitung seiner Thesen in gedruckter Form – wie ein Lauffeuer gingen sie hinaus ins Land. Und natürlich war es einer der Nutznießer des alten Systems, Kardinal Albrecht von Brandenburg, der Luther in Rom anschwärzte. Denn wenn es ans Geld (die eingesammelten Ablassgelder) und Pfründen (Albrechts gesammelte Kardinalsstühle) geht, dann werden die Mächtigen giftig, dann tun sie sich zusammen und fordern den Kritiker vor Gericht.

In der Luthergeschichte steckt eine ordentliche Portion politischer Geschichte. Und der couragierte Professor aus Wittenberg erwischte nicht nur die Profiteure des Alten auf dem falschen Fuß, sondern traf auch das Gefühl von Zeitgenossen, die sich mit seinem „Hier stehe ich“ (das er in Worms natürlich anders formulierte) identifizierten. Und darunter eben auch eine Reihe deutscher Fürsten, die schon lange mit dem Zustand der Kirche unzufrieden waren, auch wenn sie noch (wie Luthers Landesherr Friedrich der Weise) dem alten Glauben anhingen. Wie auch anders? Selbst Luther hatte ja die Grundregeln der neuen, reformierten Religionsauffassung nicht fertig in der Tasche. Er dachte ja gar nicht daran, das ganze Kirchengebäude umzustürzen, als er seine 95 Thesen formulierte. Er wollte ja nur die Kirche wieder auf ihren Ursprung zurückführen. Deswegen: Re-Formation – Wieder-Herstellung.

Aber wer denkt schon an die Folgen, wenn er die Profitierenden einfach nur mahnen möchte, sich wieder aufs Eigentliche zu besinnen? Tatsächlich zwang erst die harsche Reaktion aus Rom dazu, dass Luther sich immer tiefer hineinkniete in das Thema, sich mit den Kirchenriten, der Rolle des Priesters und der Mächtigen beschäftigte. Seine großen, grundlegenden Arbeiten entstanden alle erst in den nächsten drei, vier Jahren. Und er fand sofort Mitstreiter, die ihn unterstützten, ihm Rückhalt gaben und die dann selbst zu Trägern der Reformationen wurden – mit durchaus eigenständigen Rollen wie Melanchthon und Bugenhagen.

Und es passierte, womit Luther 1517 ganz bestimmt auch nicht gerechnet hat: Auf einmal gab es auch durchaus verschiedene Sichtweisen auf das, was reformiert werden sollte. Praktisch über Nacht teilte sich die Reformationsbewegung in unterschiedliche Strömungen, in denen dann wieder markante Männer eine eigenständige Rolle spielten – so wie Zwingli und Calvin. Nicht zu vergessen jene Strömungen, die sich binnen weniger Jahre radikalisierten. Thomas Müntzer taucht hier auf (den Kohnle auch erst einmal gegen die Einvernahme in der DDR verteidigen muss, genauso wie er Luther gegen die Einvernahme durch den deutschen Nationalismus des 19. Jahrhunderts verteidigen muss), aber auch die Täufer, die in Münster versuchten, ihre Vorstellung vom irdischen Paradies bis zur Konsequenz zu verwirklichen.

Logisch, dass Kohnle auch auf die jeweils zum Teil brachialen Reaktionen der jeweiligen Herrscher eingeht. Mehrere gewalttätige Glaubenskonflikte durchziehen das 16. Jahrhundert. Und der Augsburger Religionsfrieden von 1555 sorgte auch nur für knapp 60 Jahre für Ruhe. Wobei Kohnle auch beiläufig auf etwas eingeht, was die römische Seite betrifft: wie sehr die Reformationsbewegung in Mittel- und Nordeuropa auch die römische Kirche zwang, endlich notwendige Reformen durchzuführen und aus einer rein hierarchisch gedachten Religion zu einer weiteren wahrnehmbaren Konfession – neben den protestantischen – zu werden. Luther glückte so (indirekt) eben doch auch, die katholische Kirche zu einer Änderung zu zwingen.

Und diese nun wieder erstarkte römische Kirche war es, die im 17. Jahrhundert noch einmal versuchte, die alleinige Macht und Deutungshoheit in Europa zu erzwingen. Was ja bekanntlich nicht gelang, aber am Ende eine Bewegung ins Rollen brachte, die die Dominanz des Glaubens endgültig infrage stellte: die Aufklärung.

So schmal das Buch ist – ganze 100 Seiten – so komprimiert bringt hier der Autor die wesentlichen Namen und Fakten, die die Reformation in ihren Ursachen und direkten Folgen begreifbar machen. Wer Calvin, Zwingli usw. noch nicht kennt, bekommt ihr Handeln in Kurzform geboten. Und es wird so beiläufig sichtbar, dass die Reformationsgeschichte eben nicht nur Religionsgeschichte ist, sondern auch politische und Geistesgeschichte. Man sieht gerade aufgrund dieser Kompaktheit, was Dr. Martin Luther da auslöste, als er einfach nur für sich beschloss, seine Theologen-Kollegen zum Disputieren über ein paar grundlegende Fragen der Buße aufzufordern. Und dann entzündete er quasi die klügsten und mächtigsten Köpfe der Zeit und zwang einen ganzen Kontinent zum Reagieren.

Armin Kohnle Luther, Calvin und die anderen, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2016, 9,90 Euro.

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