Zu schön ist die Geschichte, die der Frankfurter Arzt und Psychiater Heinrich Hoffmann in der „Gartenlaube“ über die Entstehung seines „Struwwelpeter“-Buches erzählt hat. Man hat regelrecht vor Augen, wie ihm „von allen Seiten“ zugeraten wurde, die Geschichte als Buch zu veröffentlichen. Eine Veröffentlichung mit Folgen. Kein Buch hat mittlerweile so viele Parodien nach sich gezogen. Aber diese „Struwwelpetra“ ist mal keine Parodie.

Es geht auch nicht um richtiges oder falsches Verhalten. Auf das Thema „schwarze Pädagogik“ geht Gunter Preuß gar nicht erst ein. Denn wer versucht, die Hoffmannschen Fallbeispiele irgendwie in unsere heutige Zeit und in andere Themen und „Erziehungsprobleme“ zu transportieren, der ist dem Denken der Hoffmann-Zeit schon auf den Leim gegangen. Was nicht heißt, dass heute nicht immer noch haufenweise Leute in der Logik dieser rabiaten Erziehungswelt denken. Es ist eine gnadenlos autoritäre und sanktionswütige Erziehungsmethode, die sich heute noch immer in vielen Herrschaftsstrukturen spiegelt, in grimmigen Ministerminen, die nach jedem unliebsamen Vorkommnis vor die Kamera treten und „Härte zeigen“ wollen, gnadenlos aufklären und bestrafen wollen.

Nein. Es wird auch kein politisches Buch, obwohl man sich eine Analyse der emotionalen Fehlstellen in der heutigen Politik sehr gut vorstellen könnte als Buch – vom wild gewordenen Narzissmus bis zur Unfähigkeit zur Empathie. Es ist schon erstaunlich, wie gern der Wähler sein Kreuzchen bei emotional völlig unzurechnungsfähigen Typen setzt. Oder wie viele von denen sich zu einer politischen (Macht-)Karriere hingezogen fühlen.

Denn davon erzählen ja Hoffmanns angstmachende Beispiele: von einer absoluten Gewalt über Kinder, die sich „nicht richtig“ verhalten.

Und man bekommt so eine Ahnung, wie lange sich Gunter Preuß mit der Geschichte schon herumgeschlagen haben muss, immer nach dem richtigen Ansatz suchend, um das Falsche und Schäbige an dieser Erziehungsmethode auszuhebeln und gleichzeitig sichtbar zu machen, worum es eigentlich geht.

Das erzwingt gleich mehrere Perspektivwechsel. Der erste und notwendigste: raus aus der autoritären Rolle des finsteren Erziehers, rein in die Rolle des Kindes, denn das erlebt ja all diese Zumutungen, will leben und wachsen und begreifen – und bekommt es (bei Hoffmann) immer wieder mit irrationalen Bestrafungsexerzitien zu tun.

Zweiter Perspektivwechsel: raus aus dem Erziehungsdenken des 19. Jahrhunderts, das – siehe oben – bis in die Gegenwart seine finsteren Spuren zeigt und unsere Gesellschaften krank macht. So langsam sollte man vielleicht begreifen, dass man mit kaputten autoritären Menschen keine funktionierende Demokratie aufbauen kann. Sie sorgen, wenn sie den Zugriff auf die Macht bekommen, immer dafür, dass die Bestrafungsmethoden der Vergangenheit wieder zum Standard werden.

Dritter Perspektivwechsel: raus aus dem Erziehungsdenken selbst. Denn wenn man versucht, vor den Denkschablonen der schwarzen Erziehung so eine Art weiße (und bessere) Erziehung zu denken, landet man in den selben Denkfallen, man müsste Kinder (und Erwachsene) zu irgendetwas erziehen. Das geht auch dann schief, wenn man die Kinder nicht sanktioniert. Denn eigentlich weiß man es aus der Forschung längst: Kinder lernen dadurch, dass sie beobachten, kommunizieren, interagieren, ausprobieren und austesten. Sie brauchen kluge, offene, ehrliche Begleiter.

Aber auf was sie treffen, sind lauter Sittenwächter, Freizeitpolizisten, Ordnungs- und Regelfanatiker. Und so wird Lebenserfahrung auch für die kleine Petra eben keine Geschichte von lauter geglückten Schritten, Entdeckungen und Selbsterfahrungen, sondern eine von lauter Katastrophen. Neun Stück an der Zahl. Und nicht erst in der vierten Katastrophe muss Petra feststellen, dass es mit den ganzen Zurechtweisungen und Beschämungen einfach nicht aufhört: „Erziehung findet keinen Schluss, / am meisten störte mich das Muss.“

Dass Preuß sich hier auch noch ein großes Stück Frust auf die hingeschiedene DDR und ihre rabiaten Erziehungsmethoden von der Seele schrieb, wird in Katastrophe Nr. 3 sichtbar, wenn er über die verlogene Art erzählt, wie „Vater Staat“ seine Kinder zwang, seine Liedlein zu singen und zu echten Opportunisten zu werden: „Vater Staates Liedlein singen, / mit MPi und scharfen Sachen / Krieg und Frieden überwachen, / deine Zeit bloß nicht vergammeln, / zum Protest dich nie versammeln, / keinesfalls zu viel begreifen, lieber mal den Freund verpfeifen …“

Wobei die Geschichte natürlich oszilliert. Denn diese „väterlichen“ Unarten wurden ja 1989/1990 nicht einfach entsorgt. Denn Opportunisten und Karrieristen sind auch der Schmierstoff der Gegenwart. Wie auch anders, wenn Karrieristen wieder da sitzen, wo ihnen der bittstellende Bürger in den Hintern kriechen muss? „Wer fest zur Oberschicht gehört, / der wird von unten nicht gestört.“

Und wie das funktioniert, dass Menschen frühzeitig lernen, zu Opportunisten zu werden, wird in der fünften Katastrophe erzählt, wo die beglückte Sippe zu Wort kommt und das Erziehungsergebnis lobt.

„Hauptsache, das Kind ist gesund.“ Das ist der Spruch, mit dem Papa sich jedes Mal aus der Affäre zieht, wenn das Kind mal doch wieder nicht ganz ins Schema gepasst hat. Nur ist Petra ein wilder Charakter. Und wie sie so heranwächst, entwickelt sie zwar nicht ihren eigenen Kopf – den hat sie nämlich, und zwar nicht schon, sondern behalten. Siehe oben: Perspektivwechsel Nr. 1. Wirklich aufmerksame Eltern wissen es, dass Kinder von Anfang an einen Charakter haben, voller Wissen- und Weltdurst sind und alles begierig aufnehmen, was man ihnen an Angeboten zum Lernen bietet. Das hört erst (und zwar ziemlich abrupt) in der Schulzeit auf, wenn die Kinder nach der häuslichen Erfahrung auch das autoritäre und schematische Denken der Schulerziehung kennenlernen. Das ist die Zeit, in der sie entweder lernen, zu Opportunisten zu werden. Oder sie rebellieren. So wie Petra, die alles auf den Kopf stellt und sich auch mit Goliath anlegt.

Und als sie sich dann gar noch Struwwelpeter zum Freund nimmt, fallen die Eltern endgültig aus der Rolle. „Schreckliches Kind!“

Logisch, dass die Katastrophen 8 und 9 dann Petras Erfüllungen ihrer Wünsche und Vorstellungen zeigen. Logisch, dass sie dabei ganz bestimmt nicht in der Lebenswelt ihrer Eltern landet, auch wenn der Wunsch da ist, sie würden doch mal vorbeikommen.

Und da wird die Geschichte, wie man sieht, sehr heutig, erzählt aus der Perspektive einer Kindergeneration, die sich bewusst abnabelt und dabei auch den Liebesverlust der Eltern riskiert, dieser „guten Leute“, die sich eingelullt haben in ihrer braven, angepassten Sicht auf die Welt, in der alles, was anders ist, beargwöhnt wird. Oder mal die frustrierte Sippe zitiert: „Was ist nur aus dir geworden?“

Als hätte das schlimme Kind sich boshafterweise anders entschieden, als es nun einmal opportun ist: nämlich sein eigenes Leben zu leben und auf eigenen Füßen zu stehen. Die wichtigste Frage darf sich die Leserin oder der Leser ganz am Ende stellen: „Wer bist denn du? Wer willst du sein?“

Gunter Preuß Die Struwwelpetra, mit Illustrationen von Egbert Herfurth, Lychatz Verlag, Leipzig 2016, 12,95 Euro.

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