Wolfgang Bauernfeind gehört zu den Leuten, die mit 66 Jahren ganz und gar nicht daran dachten, sich auf Malle zur Ruhe zu setzen. Vier Jahrzehnte war er als Redakteur beim Rundfunk tätig. Aber das heißt ja nicht, dass man da alle Themen bearbeiten konnte, die einen beunruhigen. Ein Thema hat ihn nicht ruhen lassen: der systematische Menschenraub der Stasi in den 1950er Jahren.

Das war zwar nicht unbekannt. Die Westberliner Zeitungen waren seinerzeit voll davon und durch Prozesse und Ermittlungen kam schon eine ganze Menge ans Tageslicht. Nicht alles. Dazu musste sich erst einer in die Aktenberge der Stasi wühlen, die nach 1990 nach und nach aufgearbeitet wurden. Hier waren die Schicksale der Menschen zu finden, die zwischen der Besatzungszeit und dem Jahr des Mauerbaus 1961 verschleppt wurden. Hier stehen aber auch die Urteilsbegründungen und die Motivationen des ostdeutschen Geheimdienstes, der Menschenraub als selbstverständliche politische Handlung begriff.

Was natürlich an einem Mann liegt, der den Geheimdienst von Anfang an prägte: Erich Mielke. Man kennt den Menschenraub als geheimdienstliches Mittel auch aus der Neuzeit. Bauernfeind spricht zwar im Nachwort vor allem die Vorgänge im Nahen Osten an. Aber gerade die CIA sorgte nach dem Anschlag auf das World Trade Center 2011 weltweit mit der Entführung von Personen für Furore, die man in irgendeiner Form des Terrorismus verdächtigte. Tatsächlich ist dieser Griff in die kriminelle Klamottenkiste völlig nach hinten losgegangen und hat sowohl CIA wie USA weltweit ins Zwielicht gebracht.

Schade, dass Bauernfeind das so nicht benennt. Denn auch in der Sinnlosigkeit ähneln sich die Taten. Außenpolitisch waren die Ergebnisse der von Mielke und Genossen angestifteten und geplanten Taten geradezu katastrophal. Und selbst innenpolitisch verfehlten sie als Einschüchterungsinstrument ihre Wirkung. Vielleicht hatten sie einen Effekt – der aber selbst ein katastrophaler war. Denn in vielen Fällen waren sie Teil einer geradezu mafiösen Bestrafungsmaschinerie, die allen Funktonären der zwangsvereinigten Partei nach 1946 klar machte, dass es ein Entrinnen nicht gab. Wer sich nicht einfügte und zum willenlosen Befehlsempfänger wurde, der hatte sowieso mit rigiden Parteistrafen zu rechnen, in den 1950er Jahren oft genug auch mit abgekarteten Schauprozessen, langen Zuchthausstrafen oder auch der Auslieferung an den KGB. Denn wer sich kritisch gegen den Ulbrichtschen Machtapparat äußerte, konnte mit Gummiparagrafen zu „Hetze“, Sabotage oder auch Spionage hart belangt werden, verwandelte sich quasi vom hoffnungsvollen Kader im Handumdrehen in einen Handlanger des Feindes.

Da steckte aber nicht nur eine Strategie des Stalinismus dahinter, sondern auch die ganz spezielle Mielkesche Prägung in den 1920er Jahren. Bauernfeind spricht im Nachwort von den „Ringvereinen“ – also Verbrecherorganisationen – die Mielke damals gut gekannt haben muss. Und wer all diese Entführungsfälle, die Bauernfeind aus den Akten rekonstruiert, Stück um Stück liest, sieht sich tatsächlich stark erinnert an eine straff organisierte Verbrecherorganisation, die nicht erst zur Rache schritt, wenn einer abtrünnig wurde und gar die Seiten wechselte. Die Beobachtungsvorgänge wurden schon dann eingeleitet, wenn der erste Verdacht aufkam, jemand könne von der „Parteilinie“ abweichen. Exemplarisch schildert das Bauernfeind an den Schicksalen von Robert Bialek und dem in der westdeutschen KPD aktiven Heinz Brandt.

So deutlich wird Bauernfeind aber tatsächlich erst im Nachwort. Denn Vieles von dem, was er in den zwölf Entführungsfällen (plus zwei gescheiterte) schildert, versucht er mit den speziellen Bedingungen der offenen Grenze und der Radikalisierung im Kalten Krieg zu erklären. Das mag für die Propaganda dieser Zeit gelten und für die harten Bandagen, mit denen Ost und West aufeinander eindroschen. Aber das erklärt nicht diese systematische Kriminalisierung einer ganzen Gesellschaft, in der kritische SED-Mitglieder damit rechnen mussten, dass eine einzige Verleumdung sie ins Zuchthaus oder unters Fallbeil brachte. Die Wortwahl in den Stasi-Protokollen zeigt ziemlich deutlich, wie allein schon die Bezeichnungen für die unterstellten Taten dafür sorgte, aus nach Freiheit und Ehrlichkeit suchenden Zeitgenossen regelrechte Verbrecher zu machen, denen jede Schandtat zum Sturz des Sozialismus unterstellt wurde. Ein ziemlich exemplarisches Beispiel dafür, was passiert, wenn sich ein Staat, eine Partei und ihr Geheimdienstapparat über die ganze Gesellschaft stellen und jede Kritik an sich als Angriff auf das Ganze betrachten. Am Ende kontrollierte der Geheimdienst der Partei nicht nur das renitente und zum Abfall neigende Volk, sondern auch die Partei selbst.

Eigentlich genau das, was Wolfgang Leonhardt schon in „Die Revolution entlässt ihre Kinder“ beschrieben hatte. Er war ja nicht ohne Grund aus dem Osten geflohen. Doch mit den von der Stasi und ihren Vorläuferorganisationen organisierten Entführungen wird hier greifbar, wie dieser geheime Dienst dachte und handelte. Kriminell sowieso. Eigentlich gibt es kaum eine Entführung, die hier geschildert wird, in der sich die Stasi  nicht diverser kleiner und großer Verbrecher als Handlanger bediente – und sie hinterher schützte und versorgte, manchmal auch eifrig integrierte in den eigenen Apparat.

Es tauchen auch ein paar Stasi-Männer – wie der beinharte Richard Stahlmann – auf, die ihre Vorgehensweise als gehorsamen Dienst an einer allmächtigen Partei begriffen, echte Stalinisten, die nicht mehr hinterfragten, welcher Sinn hinter Befehlen steckte. Tatsächlich – so analysiert Bauernfeind – hat das MfS sich aus den systematischen Entführungen eine Art Legitimation verschafft. Denn wer so eifrig erst mal Spione und Saboteure erfindet, sie dann auch noch aus dem Westen in teils spektakulären Aktionen entführt und dann auch noch vor willigen Gerichten zu harten Strafen verurteilen lässt, der erzeugt sich quasi die Begründung für wuchernde Kosten und Personalstellen selbst. Denn wo so viele Feinde aus dem Boden sprießen, die allesamt kurz davor zu stehen scheinen, den Sozialismus zu vernichten, da braucht es einen (all-)mächtigen Geheimdienst.

Dass die Entführungsopfer meist in monatelangen Verhören zermürbt und regelrecht zermahlen wurden, wird in den Protokollen erst sichtbar. Denn selbst für die emsig spekulierenden Zeitungen der 1950er Jahre war nicht klar, was mit den Entführungsopfern geschah – darunter auch Journalisten aus dem Westen, an denen die Stasi ein Exempel statuieren wollte, oder Mitglieder des „Untersuchungsausschusses Freiheitlicher Juristen“, der emsig alle verfügbaren Nachrichten über die DDR und ihre Opfer sammelte, bzw. der „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“, die den Osten mit diversen spektakulären Störaktionen nervte.

Dass in Westberlin auch noch alle westlichen Geheimdienste aktiv waren, kommt hinzu. Die versuchten natürlich, aus allen Flüchtlingen, die vorher in wichtigen Positionen waren, selbst wieder Informationen zu schöpfen. Da waren die Betroffenen schnell zwischen allen Mühlen und allen Stühlen. Da ist diese besondere Inselsituation mitten im Kalten Krieg sicher ein Ansatz zur Erklärung. Aber es begründet nicht wirklich den Sinn der Entführungen, die für die Entführungsopfer auch oft genug mit dem Tod endeten. Selbst im politischen Zusammenhang waren sie völlig sinnlos, verschafften diesem Versuch, eine völlig andere, menschliche Gesellschaft aufzubauen, schon frühzeitig ein schlechtes Image und verstärkten eher das Misstrauen. Und zwar nicht nur im Westen, sondern in der eigenen Bevölkerung. Und auch die hämischen Kommentare in den ostdeutschen Zeitungen zu diesen Entführungen machten das Ganze nicht besser. Die meisten Prozesse eigneten sich deshalb auch nicht mal zu Schauprozessen, weil die behaupteten Verbrechen so gar nichts mit dem zu tun hatten, was man den Entführten überhaupt zur Last legen konnte.

Aber manchmal verlieren sich die Spuren der Entführten auch in den Akten, bleiben nur Mutmaßungen, wo sie gestorben sein könnten. Man weiß zwar nun einigermaßen, warum dieser Geheimdienstapparat derart entartete und zum Bestrafungsinstrument für eine ganze Gesellschaft wurde. Aber umso deutlicher heben sich die Schicksale der Opfer ab, die vor diesem Hintergrund erst recht wie echte, lebendige Menschen wirken, die versuchen, anständig und ehrlich zu bleiben – und die oft genug erst in den Westen flüchteten, weil sie die stählernen Krallen des Bestrafungsapparates schon im Nacken fühlten. Und dass sie genau wussten, dass sie die Menschenwürde mit Füßen traten, bewiesen auch die Genossen Ulbricht, Pieck und Grotewohl, wenn sie auf die Bitten und Briefe der Angehörigen mit Schweigen antworteten. Sie wussten sehr genau, was ihr Wachhund da draußen trieb – aber sie hatten nicht das Kreuz, auch nur ansatzweise menschlich zu reagieren. Sie schwiegen nur.

Und das ist eigentlich alles, was man über die ganzen führenden Funktionäre des Ostens sagen kann. Und wäre das nun einfach nur eines der trübesten Kapitel der DDR-Geschichte, könnte man es ja irgendwie noch einordnen. Aber augenscheinlich leben wir wieder in einer Zeit, in der Regierungen es für opportun halten, Menschenraub als Staatsdoktrin zu begreifen und damit Angst und Schrecken zu verbreiten. Nur hat das auch schon zu Mielkes Zeit genau das nicht gebracht, was sich die Entführer beabsichtigten: den „Feind“ so einzuschüchtern, dass er aufhörte zu senden (der RIAS zum Beispiel), Fakten zu sammeln über den abgeschotteten Osten (der Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen) oder über alles zu berichten, was aus dem eingezäunten Osten zu erfahren war (wie der Journalist Karl-Wilhelm Fricke). Im Gegenteil: Sie fühlten sich gerade erst recht angespornt, mit ihrer Arbeit weiterzumachen.

Und ganz ähnlich sind auch die Ergebnisse heutiger Entführungsunternehmen: Sie schüchtern die „Gegner“ nicht ein, sondern sorgen oft erst richtig für Gegenreaktionen. Und dann will man an der Misere nicht schuld gewesen sein. Wer zu solchen Mitteln greift, ist nicht nur feige, der hat auch schon keine Botschaft mehr, die irgendwem zu vermitteln wäre.

Aber – und das ist eigentlich das Schlimmste daran: Staaten, die solche Grenzen überschreiten, zerstören auch ihre eigenen moralischen Grundlagen. Und zwar dauerhaft und gründlich.

Wolfgang Bauernfeind Menschenraub im Kalten Krieg, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2016, 14,95 Euro.

In eigener Sache – Eine L-IZ.de für alle: Wir suchen „Freikäufer“

Eine L-IZ.de für alle: Wir suchen „Freikäufer“

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar