Vor einiger Zeit hat sich ja der Küchenmeister Harald Saul auf die Suche gemacht und Rezepte aus den Küchen jener Regionen gesammelt, die bis 1945 zum deutschen Reich gehörten. Nicht gerade in den heutigen Regionen – das wären andere und mit Sicherheit auch höchst spannende Kochbücher geworden. Ihm ging es eher um ein Stück vom Vergessen bedrohter Küchenkultur, die noch in Familienüberlieferungen überdauert hat.

Denn mit dem Verschwinden zum Beispiel Ostpreußens von der Landkarte, verschwand auch eine recht eigenständige Kultur. Überlebt hat sie fast nur noch in Familienerinnerungen und alten Familienrezepten. Und das Faszinierende daran ist: Die sind, wenn man sie wieder in ein Büchlein packt, auch wieder lebendig. Sie lassen sich alle nachkochen und damit auch die Küchenwelt eines Landstrichs wieder erlebbar werden, der 700 Jahre lang im Spannungsfeld deutscher, russischer und polnischer Interessen stand, wo einst die Deutschordensritter ihr Machtzentrum hatten und später die Brandenburger Kurfürsten ihre Chance sahen, sich einen Königstitel zu kreieren.

Das ist fast alles vergessen. Mit dem Potsdamer Abkommen kam ein Teil Ostpreußens zu Polen. Den Königsberger Teil sicherte sich die Sowjetunion. Aus Königsberg wurde Kaliningrad. Und das Hinfahren ist nach Jahren der Entspannung wieder deutlich erschwert. Wieder steht das Eckchen Welt im Spannungsfeld der Machtinteressen. Was natürlich tragisch ist, denn mit der Entspannung nach 1990 begann dieser Teil Europas gerade wieder tatsächlich teilzuhaben am europäischen Geschehen. Was eigentlich wichtig wäre. Denn dass der Osten Europas so wenig Gewicht hat in der europäischen Politik, liegt auch daran, dass die vielen reichen Kulturen Osteuropas jahrzehntelang hinter dem Eisernen Vorhang versperrt waren und damit ausgeschlossen vom Diskurs.

Fotos in Harald Sauls kleinem Rezeptbuch zeigen, wie liebevoll auch die heutigen Bewohner Klaipedas, Allensteins und Königsbergs mit den historischen Stadtsubstanzen umgehen. Man erfährt es zwar nicht, darf aber vermuten, dass viel von den einstigen ostpreußischen Küchentraditionen auch heute noch dort gepflegt wird.

Die Rezepte, die Harald Saul hier beispielhaft von Suppen und Eintöpfen über Schnucken und Glumse bis zu Kuchen und Desserts sortiert, stammen vor allem aus den Einsendungen all der Leute, die seinem Aufruf gefolgt waren, ihm alte Familienrezepte einzusenden. Man lernt die Vorlieben für Rote Beete und Wirsingkraut kennen, Spinat-Pfannkuchen und Mangoldrouladen, gebackenen Rettich und Kartoffelkeilchen mit Spirkel, natürlich auch die berühmten Königsberger Klopse (von denen es unzählige Variationen gibt) und Gerichte mit so leckeren Namen wie Schluppnis, Gratnis oder marinierte Buletten aus Allenstein.

Alles nicht nur aufgeschrieben, sondern auch nachgekocht und nachgebacken. Denn die Zutaten sind fast alle einfach zusammenzubringen, die Zubereitung ist für geübte Köchinnen und Köche kein Problem. Und lecker ist es auch, was ja selbst die Kinder und Enkel jener Frauen wissen, die Omas Küche kennengelernt oder gar bei Oma das Kochen gelernt haben. So sind viele dieser Familienrezepte noch heute lebendig. Und man merkt, wie wichtig Harald Sauls Sammeleifer ist – denn heute ist es die Kultur der Fertiggerichte, die diese Überlieferungen bedroht. Die enge Verbindung zwischen Küchenkultur und den Angeboten von Landschaft, Meer und Fluss direkt nebenan erst recht. Auch das merkt man ja den Rezepten aus Ostpreußen noch an: Wie sehr sie dem Jahreskreislauf verpflichtet sind und den speziellen Angeboten der Landwirtschaft an der Memel und an der Kurischen Nehrung.

Es ist tatsächlich eine kleine Reise – wenn auch nur auf die kulinarische Art. Und eine Entdeckung für alle, die vielleicht andere Küchen (wie zum Beispiel die thüringische oder mecklenburgische) schon kennen und neugierig darauf sind, was aus den oft ganz ähnlichen Zutaten in einer anderen regionalen Küche daraus gemacht wurde.

Harald Saul Ostpreußen kulinarisch, Buchverlag für die Frau, Leipzig 2017, 5 Euro.

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