Für FreikäuferEs sind solche Bücher, die einem in die Redaktion flattern und einem immer wieder zeigen, was für ein buntgeflecktes Land die DDR eigentlich war und wie viel Leben darin war, meist mit jeder Menge Erfindergeist von Menschen wie Lutz W. Hiller auf die Beine gestellt. Das Wort Schallplattenunterhalter hat er sich schon patentieren lassen. Denn er war ja selber einer.

Was er sich gar nicht ausmalte, als das losging, 1971 mit der Leipziger Diskothek und 1976, als die LD ’71 eine Heimat suchte und sie im ehemaligen Schießstand des Kulturhauses „Arthur Nagel“ der GISAG fand. Den Keller bauten sich Lutz und seine Freunde in Eigenregie aus. Wie das damals so war im Land, in dem es eigentlich nichts gab und am Ende Beziehungen dafür sorgten, dass dennoch Dinge geschehen konnten, die in der sozialistischen Planwirtschaft gar nicht vorgesehen waren. Wie diese Tanzabende, bei denen statt einer verstaubten Tanzkapelle auf einmal ein Bursche mit Lautsprecheranlage und Tonbandgerät vorne stand und die Bude mit den Songs der Zeit zum Beben brachte. Im Westen nannte man solche Burschen DJ, Diskjockey, im Osten musste ein eigener Name her. Man wollte ja nicht zugeben, dass mal wieder ein Trend aus dem Wesen herüberschwappte. Und so entstand der Schallplattenunterhalter als Berufsbild, für das es extra Abnahmen, Schulungen und Einstufungen gab.

Wovon Lutz W. Hiller anfangs nichts ahnte. Bis Gerd Pasemann aus der Kulturverwaltung in die selbst gebaute Diskothek schneite und ganz amtlich klarmachte, dass es ohne Pappe keine Disko geben würde. So begann die Karriere des Burschen aus dem Leipziger Südwesten zu einem der bekannteste SPUs im der größten DDR der Welt – und ein Leben mit vollgepacktem Anhänger hinterm Wolga, auf Achse quer durchs Land, von einem Klubhaus ins nächste, von Dorfsaal zu Dorfsaal. Mit ziemlich viel Promille, aber auch rappelvollen Sälen, in denen die Jugend der Republik ihre Sehnsucht nach Grenzenlosigkeit auslebte.

Eine Zeit, die 1989 endete, als Hiller kurz in den wilden Westen verschwand und sich die Landschaft, in der er jahrelang mit seiner kleinen Mannschaft unterwegs gewesen war, einfach auflöste.

Es gibt also was zu erzählen über ein Leben, das es so nicht mehr gibt. Und Hiller erzählt es in diesem Büchlein – launig, mit vielen Eulenspiegeleien, Anekdoten, aber auch sehr plastisch. Manchmal mit kleiner Verlegenheit zwischen s und ß. Kann passieren. Sein Leben war immer die Bühne. Die „Klimperkiste“ und später die „Hiller Crew“ waren wohl deshalb so beliebt, weil er sein Programm nicht einfach abnudelte und langweilige Titelansagen machte, sondern regelrecht Show-Einlagen entwarf mit Kostümen, Späßen und Überraschungen. Im Grunde besteht sein Buch aus lauter solchen Geschichten, in denen das Leben auf den Landstraßen zwischen Ostsee und Thüringer Grenzzaun wieder lebendig wird – in Begegnungen mit Kulturfunktionären, Klubleitern, urigen Wirtinnen, aber auch den phantasielosen Polizisten des Landes, deren Auftreten dem „Bürger“ schon Angst machen konnte. Denn auch wer in der DDR auf Mugge war, wusste: Vor Willkür war man nicht gefeit.

Der „herrschenden Klasse“ begegnete er auch ein paar Mal – bei in der Regel desaströsen Auftritten vor emotionslosen Funktionären und saufenden NVA-Offizieren. Das Leben tobte anderswo – dort, wo sich junge Leute danach sehnten, dass mal wieder ein SPU mit einem guten Programm in ihr verschlafenes Nest kam. Dann floss der Alkohol in Strömen, wurden kreative Lösungen gefunden, wenn mal was fehlte. Und eine Menge toller Mädchen scheint die feierlustige Truppe gern besucht und begleitet zu haben. Und da sich die Welt der DJs mit der der Bands immer wieder begegnete, bekommt man so eine Ahnung, was da auf den Hinterbühnen des Landes so alles los war.

Lebten nicht eine Menge junge Leute in so einer Parallelwelt? Natürlich. Da ging die Post ab. Und es liest sich oft so, als hätte Hiller diese zum Teil sehr provisorische Art zu leben sehr genossen. Denn Hotelzimmer waren eher selten drin. Oft wurde gleich auf der Bühne geschlafen. Und der schwer beladene Anhänger machte sich auf den kaputten Landstraßen mehrmals selbstständig. Einmal wurde er sogar geklaut und tauchte nie wieder auf. Der Kriminalität im Lande widmet Hiller natürlich auch einige Kapitelchen. Er erzählt von den Einstufungs-Veranstaltungen, die er ganz und gar nicht für sinnlos hielt. Im Gegenteil: Dadurch bekam die Arbeit der SPUs einen gewissen Qualitätsstandard, den der Autor in der freien Marktwirtschaft wohl zu Recht vermisst. Es ist wie so oft: Billigheimer, die sich keine Mühe geben, versauen die Preise. Denn wie viele Auftraggeber können noch einschätzen, ob ein DJ wirklich den Saal zum Rocken bringen kann? Da spart man lieber und kauft billig ein.

Das lässt Hiller nur anklingen. Denn 1989 macht er Schluss, setzt den Schnitt. Denn all das, was er hier erzählt, fand damals sein Ende. Die meisten Klubs und Säle, von denen er erzählt und die einst das Pilgerziel für die unangepassten jungen Leute waren, sind verschwunden. In manchem dieser Häuser war Hillers Auftritt der letzte – so wie in Eythra im Leipziger Süden. Da stand der Ort schon zum Abbaggern. Auch die Kellerdisko im „Arthur Nagel“ verschwand 2000, als der alte GISAG-Klub abgerissen wurde. Eden und Esplanade? Längst vergangen. Das Auensee gibt es noch, dafür finden in der Kongresshalle keine Disko-Tage mehr statt. Die jungen Leute tanzen woanders. Und selbst die Generation von Lutz Hiller steckt heute schon in den Sechzigern und erntet Grimassen, wenn sie ihre Lieblingsmusik aus Disko-Tagen wieder hervorholt: Fleetwood Mac, Led Zeppelin, Eric Clapton …

Da hätte man schon gern erfahren, wie er nach 1990 weitergemacht hat. Aber das erzählt er nicht. Das ist ganz bestimmt eine andere Geschichte. Diese hier fand im Herbst 1989 ihr Ende. Und wenn man am Ende des Buches die Liste mit den 113 wichtigsten Titeln liest, die Hiller im Lauf seiner SPU-Karriere gespielt hat, dann hat man eigentlich den Sound von 1989 im Ohr, der die ganze Zeit da war, seit den 1970er Jahren: Joe Cocker, Gerry Rafferty, Falco und natürlich immer wieder Pink Floyd: Money.

Wer richtig hingehört hat, weiß, dass das genau die Musik von ’89/’90 war. Und dass Pink Floyd den jungen Leuten im Osten tausendmal näher war als die eher ungeliebte Ostmusik. Was nicht heißt, dass sie schlecht war. Aber vorschreiben lassen wollten sich das die jungen Leute nicht – von wegen 60:40. Die Regel, so Hiller, war wohl meistens 2 Prozent Ostrock zu 98 Prozent Musik aus der fernen weiten Welt. Sehnsucht pur. So wie bei Kim Wilde: „Kids of America“.

Ohne diese immer präsente Sehnsucht nach einem oft auch idealisierten Westen ist das lange und dann sehr schnelle Ende der DDR nicht zu begreifen. Wer die Reportagen aus der späten DDR mit FDJ- und Arbeiter-Kampfliedern unterlegt, der hat es einfach nicht begriffen.

Lutz Hiller Der Schallplattenunterhalter, Verlag Ph.C. W. Schmidt, Neustadt an der Aisch 2017, 14,90 Euro.

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