Seine bekanntesten Titel findet man auch heute noch wie selbstverständlich im Science-Fiction-Regal: Die „Robotermärchen“, die „Sterntagebücher“, sogar „Der Mensch vom Mars“ und „Der Unbesiegbare“ – halt das, was auch beim Lesen irgendwie wie Science Fiction aussieht und nicht allzu anstrengend ist für Leser, die Raketen, Roboter und Marsianer für eine denkbare Zukunft halten.

Andere Titel muss man da in der Regel erst bestellen, aber Suhrkamp hat fast alles irgendwie vorrätig. Bei Suhrkamp hatte Stanislaw Lem schon in den frühen Jahren seiner unermüdlichen Produktion eine Heimat gefunden – genauso wie nebenan in der DDR bei Volk und Welt. Die Verlage lieferten sich zuweilen ein Wettrennen darum, den neuesten Lem-Titel veröffentlichen zu können. Was für einen Autor aus Polen durchaus etwas Ungewöhnliches war – genauso wie sein gigantischer Millionenerfolg weltweit. Und das mit Büchern, die schon in den 1960er Jahren begannen, Anforderungen an die Leser zu stellen, die im SF-Genre selten bis nie gefordert waren.

Bis heute dominieren in diesem Genre „Weltall-Märchen“ über fremde Planeten, gigantische Sternenflotten und Sternenkriege. Da unterscheidet es sich vom kriegerischen Geist der Fantasy kaum. Es geht um den Sieg irgendwelcher edlen Helden und jede Menge technische Opulenz, die zumeist verbirgt, dass die Autoren vom Stand der Wissenschaft und den Naturgesetzen nicht viel Ahnung haben. Um die geht es meist auch nur beiläufig.

Die Autoren, deren Zukunftsprojektionen wirklich Hand und Fuß hatten und die auch noch Jahrzehnte nach ihrem Tod ernst zu nehmen sind, die sind an zwei Händen abzuzählen. Und Lem gehört dazu. Der Autor aus Wroclaw hat sogar fertiggebracht, seine Leser zu behalten, obwohl er mit jedem neuen Buch das Terrain der alten Weltraum-Geschichten verließ und immer stärker all jene Probleme in den Mittelpunkt rückte, die der Vielbelesene auf die Menschheit zukommen sah, wenn sie die Computerisierung der Welt immer weitertreiben würde.

Jeder SF-Autor baute Computer und Roboter in seine Technik-Phantasien ein. Das war einfach Standard. Aber keiner machte sich auch nur die Mühe, die Folgen dieser Technologie auszumalen.

Außer ein paar Forscher, die sich schon in den 1950er Jahren die Fragen stellten, die sich heute die Spätzünder unter den Technik-Journalisten stellen, weil sie nun merken, dass die großen Tech-Firmen die alten Ideen von 1950 in sturer Konsequenz zur Wirklichkeit werden lassen – computerisierte Implantate, die die Funktion menschlicher Organe übernehmen, selbststeuernde Autos, selbstlernende Computernetze, die weltweite Vernetzung von Datenströmen und Rechnerkapazitäten, die Schaffung „künstlicher Intelligenz“ und die Komplettüberwachung aller menschlichen Aktivitäten durch „intelligente Kameras“ usw.

Die Vorausberechenbarkeit von Verbrechen gehört dazu, die Schaffung einer regelrechten virtuellen Sphäre, aus der die Menschen gar nicht mehr auftauchen …

Wer mit Stanislaw Lem aufgewachsen ist, kennt das alles schon. Und hat es durchdiskutiert mit einem Meister der Machiavellistik (der sich manchmal auch als Super-Computer Golem tarnte). Denn Lem ist ein Zyniker gewesen. Seit seinen Erlebnissen im 2.Weltkrieg hat er gelernt, seine Mitmenschen so zu sehen, wie sie waren. Den irrlichternden Glauben an das Edle im (sozialistischen) Menschen findet man bestenfalls noch in seinen ganz frühen Werken – „Planet des Todes“ vielleicht noch und „Gast im Weltraum“. Aber schon mit „Eden“ und „Solaris“ waren Lems Zweifel an der Lern- und Erkenntnisfähigkeit des Menschen unübersehbar.

Natürlich schafft es Jacek Aleksander Rzeszotnik nicht, auch nur den größeren Teil von Lems Büchern zu besprechen und in Essays zu würdigen. Sein Buch ist auch keine wissenschaftliche Aufarbeitung dieser gigantischen Denkwelt. Eher ist es eine komprimierte Hommage, in der er in 14 Essays versucht zu zeigen, wie Lems Bücher wirkten, als sie erschienen – und welche Reaktionen sie vor allem bei Kritikern auslösten. Mit seiner Essaysammlung holt der Germanist aus Wroclaw seinen Landsmann zurück in die Diskussion, wo er eigentlich hingehört.

Denn wenn man sich umschaut, ist das geistige Niveau der meisten Leute, die sich über die heutigen Entwicklungen in der digitalen Welt wundern wie die Waschweiber, eigentlich nur noch erschreckend. Sie kennen sich zwar mit allen technischen Details bestens aus, sind immer auf dem Stand des neuesten Produkts. Aber ihnen fehlt, was in den 1960er Jahren zumindest in der literarischen Kritik noch zu finden war – einer Zeit, als es im Westen zumindest erwartbar war, dass einer seinen Adorno, Sartre, Marcuse oder Marx gelesen hatte – die Fähigkeit zum ordnenden und vernetzten Denken.

Was die Fähigkeit zum Lesen komplexer Texte natürlich voraussetzt.

Heute liest man ja nicht mehr.

Und das merkt man auch. Wir leben in einer Suppe des Häppchenwissens, dem noch dazu jede moralische Note fehlt. Nicht mal die Technik-Gurus, die all diese modernen Spielzeuge bauen und ins Leben der Menschen hineinpressen, denken auch nur einen Moment darüber nach, was ihre Technik eigentlich mit den Menschen anstellt, wie die Technosphäre die Biosphäre verdrängt und zerstört, wie Menschen selbst zu Anhängseln der Technik werden, wenn diese ihre Welt immer mehr durchdringt.

Das ist ein Aspekt, der in Rzeszotniks Essays kaum vorkommt. Vielleicht auch, weil sich die Kritiker der 1960er und 1970er Jahre hüteten, den Finger in diese Wunde zu legen. Denn mit seiner zunehmend pessimistischen Sicht auf die Erkenntnisfähigkeit des Menschen hat ja Lem auch das sich immer noch als siegreich empfindenden System des Kommunismus hinterfragt. Manche Bücher kann man sogar als regelrechte Persiflagen auf dieses kommune Gleichheitssystem lesen – denn gerade in seinen planetarischen Geschichten begegnet man allen möglichen kosmischen Gesellschaftsexperimenten, manche noch viel kommunistischer, als Lenin erlaubt hätte. Und die Entsandten von der Erde (zumeist der berühmte Astronaut Ijon Tichy) erleben peinlichste Momente, wenn sie in diesen kosmischen Gesellschaften von einem Fettnäpfchen ins nächste treten.

Rzeszotnik legt großen Wert darauf, Lem als Philosophen zu kennzeichnen, eine Bezeichnung, die der weise Mann aus Wroclaw auch selbst für sich wählte, weil er merkte, wie wenig Spaß ihm die romanesken Erzähltraditionen machten und wie seine Ideen immer mehr zu Essays ohne (Rahmen-)Handlung tendierten. Aber Philosophie ist das meiste davon eben auch nicht. Eher etwas, was den Namen Futurologie verdient hätte – wäre der durch lauter Quasi-Futurologen nicht längst völlig desavouiert worden. Schon zu Lems Zeiten, worüber er ja bekanntlich den herrlichen Doppel-Band „Fantastik und Futurologie“ schrieb.

Natürlich bekommt man mit Rzeszotniks kleinen, reich mit Zitaten gespickten Essays wieder Lust, die erwähnten Titel zu lesen. Sie wieder hervorzuholen und nachzuschauen, wohin Lem mit seinem Weiter-Denken der eigenen Gegenwart eigentlich gekommen ist. Denn das sind ja die besten phantastischen Stücke, in denen die technischen Möglichkeiten der Gegenwart tatsächlich konsequent weitergedacht werden. Was die Technik-Gläubigen selten tun. Deswegen ist die Heilserwartung, die die Verkünder der modernen Technikspielzeuge mit diesen verbinden, immer wieder so erschütternd. Wie eng muss der Horizont dieser Leute sein? Wie wenig müssen sie über den Menschen wissen?

Meistens wissen sie ja über den Menschen und dessen zumeist irrationales Verhalten gar nichts. Sie sind von „Ideen“, Reizen und Stimuli getrieben und lassen sich aus Bequemlichkeit auch gern treiben. Und landen damit recht automatisch in seltsamen Gesellschaftszuständen, in denen sie schon längst nicht mehr Herr ihres Tuns sind. Wer mit Lem nachgedacht hat über die irrationalen Logiken von Gesellschaften, der wundert sich auch nicht über die mörderischen Erlösungslogiken des Faschismus. Oder der vielen Faschismen, die der entfremdeten Wirklichkeit innewohnen.

Denn wenn Menschen selbst erst einmal anfangen, sich zu klassifizieren und in nach Wert gestaffelte Klassen einzuteilen, dann ist der Holocaust nicht weit – dann werden Menschen in wertvoller und wertlos geteilt und das Töten wird zu einem Akt der unmoralischen Logik. Und man wundert sich auch nicht wirklich darüber, dass dieser konsequent weiterdenkende Autor so schlecht verfilmbar oder zum Bühnenstück zu machen ist. Denn das Abenteuer steckt bei ihm eigentlich immer in den Gedankenspielen – den zwingend weitergedachten Folgen dessen, was Menschen anrichten. Und es überrascht nicht, dass Lem sich in den 2000er Jahren in seinen veröffentlichten Essays oft wiederholte, denn er konnte ja zuschauen, wie genau das sich entfaltete, was er Jahrzehnte zuvor beschrieben hatte.

Bis hin zu einer „Informationsgesellschaft“, in der fast alle Menschen fast immer irgendwie am Tropf der unermüdlichen Informationsmaschine hängen – aber nicht mehr in der Lage sind, die Informationsfluten irgendwie zu etwas Sinnvollem zu verknüpfen.

Wie will so eine zum strukturierten Denken unfähige Menschheit überhaupt mit Außerirdischen kommunizieren? Das muss ja in einer Katastrophe enden. Wenn es nicht gleich in selbst gemachten Katastrophen endet, in denen „die Menschheit“ ihren Planeten Erde völlig verwüstet und zum Lehrbeispiel falscher Programmierung wird.

Wer mit Lem aufgewachsen ist, der kann mit vielen Dummheiten der Tagespolitik wirklich nichts mehr anfangen. Denn Lem lehrt (auch wenn er das ganz bestimmt nicht beabsichtigte) seine Leser das planetarische Denken. Und die Melancholie, denn die Chancen, dass die gewählten Oberdummköpfe (die Oberschleimer, um mit Tichy  zu sprechen) der menschlichen Spezies den Befehl zur Vernichtung des Planeten geben, ist ungleich größer als die besonnene Selbstkorrektur dieser irgendwie sehr selbstherrlichen Gattung Mensch, die sich als „Krone der Schöpfung“ empfindet, sich aber dümmer benimmt als Ameisen oder andere scheinbar gar nicht so intelligenzbegabte Tierchen.

Die Lemsche Skepsis, ob denn die menschliche Intelligenz überhaupt so eine besondere Gabe ist, trifft man ja allenthalben an. Und man sagt sich beim Lesen: Eigentlich wäre da ein alternativer Weg. Der Autor macht es ja vor. Und Lem war bekannt dafür, dass er sich stets auf dem neuesten Stand der Forschung in mehreren Wissenschaftsgebieten hielt. Bei ihm kam nie das Gefühl auf, dass er versuchte, einen mit den Raketenphantasien der 1920er Jahre über den Tisch zu ziehen und dann doch nur eine dümmliche Cowboy-Pistole erzählte.

Rzeszotnik vermutet, dass er deshalb ab den späten 1960er Jahren zunehmend auf die romanhafte Handlung verzichtete und immer mehr zum Essay griff. Aber es sind eben keine bloßen Essays, sondern eher imaginierte Essays meist über imaginäre Bücher. Im 13. Kapitel geht Rzeszotnik auf das ein, was man bei Lem durchaus als „Technologiefalle“ artikuliert findet – in zwei Nuancierungen: der direkten Technikfolgenabschätzung, also dem, was die tolle neue Technik selbst an Folgen für die Menschen und die Welt hat. Und als soziologische Folgenabschätzung: Was richtet die neue Technik eigentlich mit dem Menschen selbst an?

Von der absoluten Technikgläubigkeit, die heute selbst noch im Silicon Valley dominiert, war er weit weg. Und eigentlich ist Rzeszotniks Empfehlung deutlich: Diesen Autor muss man wieder und wieder lesen. Und sei es drum, wenigstens ein bisschen Kühlung für den Kopf zu bekommen in einer Welt, in der das Geplapper und Gelärme einer völlig wurzellos gewordenen Unterhaltungsmaschine immerfort alle Kanäle zuspült. Und zwar bis zur Füllkante.

Da haben dann auch Lems Wiederholungen nichts genützt. Denn die Leute im Geplapper lesen ja nicht. Und sie verstehen auch nicht, was man zu ihnen sagt. Man darf sich dabei durchaus wie Ijon Tichy auf einigen seiner irrsten Reisen fühlen. Oder wie Gulliver auf seinen Reisen. Den Rzeszotnik natürlich erwähnt. Niemand hat so moderne Gulliveriaden geschrieben wie Stanislaw Lem. Und mit Swift hat er auch diesen hoffnungslosen Blick auf die Menschheit gemein.

Es sind ja eigentlich keine Gedankenexperimente, die er geschrieben hat, sondern eher sehr logische Modellanordnungen – ohne den unbelegbaren Glauben an das Edle und Gute in diese plappernde Spezies, die mit ihrem Planeten so umgeht, als könnte sie im Supermarkt gleich noch mal zehn Ersatzexemplare davon kaufen.

Jacek Aleksander Rzeszotnik Stanislaw Lems Literarische Gedankenexperimente, Büchner Verlag, Marburg 2018, 22 Euro.

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