Manchmal passiert es, dass man nicht fertig wird mit einem Roman. Erst recht, wenn er anspruchsvoll ist und der Autor ein Stück seiner Lebensgeschichte in einen größeren Rahmen stellen möchte. So ging es Andreas B. Bengsch, geboren im Aufstand-Jahr 1953, gestorben schon früh, 2017. Zurück blieb sein Romanmanuskript „Taucher in der Wüste“. Eine echte Herausforderung. Kann man so ein Buch überhaupt beenden?

Udo Scheer ist das Wagnis eingegangen. Auch weil ihn sichtlich eine lange Freundschaft mit dem einstigen Mit-Dissidenten verbindet. Beide sind mit dem vormundschaftlichen Staat in der DDR aneinandergeraten. Bengsch hat für seine Widerständigkeit mit mehreren Haftstrafen gebüßt. Wenn er also seine fragmentarische Geschichte über den heimatlos gewordenen Weltenbummler Carl Graff mit bedrückenden Szenen aus dem Knast beginnen lässt, dann steckt dahinter reale Erfahrung.

Dann darf man sich an Erich Loests beeindruckende Schilderungen zu Bautzen erinnert fühlen. Dann wird hier jener Teil der hingeschwundenen DDR sichtbar, in dem sie versuchte, den Menschen mit Drohungen, Wegsperren und Lebensentzug die Widerständigkeit auszutreiben.

Erreicht hat sie damit das Gegenteil. Zumindest bei denen, die sich wie Loest und Bengsch nicht brechen ließen. Andere sind daran zerbrochen. Was selbst dieser kurze Abschnitt im Buch ahnen lässt: Unter solchen entleerten Bedingungen wie in den Haftanstalten des Ostens war es schwer bis unmöglich, seinen Lebensmut zu erhalten und seelisch nicht vor die Hunde zu gehen.

Oder – wie Bengschs Held, der im Zwiegespräch eines geheimnisvollen „pressebüros abb“ mit einem durchaus neugierigen Rezensenten erst nach und nach Konturen gewinnt – zum Alkoholiker zu werden. Zwar endlich frei (so wie Bengsch nach seinem Freikauf 1987), und dennoch abhängig geworden vom großen Tröster in der Not. Oder Lord Barleycorn, wie ihn Bengsch an einer Stelle nennt in einem selbstbewussten Verweis auf Jack Londons grandiosen Versuch, seine Sucht in einem Roman zu thematisieren und sich damit zu therapieren. Was ja bekanntlich gescheitert ist.

Und es soll nicht der einzige Verweis auf die Weltliteratur sein, die Bengsch (oder im späteren Verlauf der Geschichte Scheer) in der Erzählung untergebracht hat. Denn wenn der Held endlich wieder seinen nötigen Pegel hat, den er braucht, um wieder klar denken zu können, dann ist er hellwach, beherrscht die Situation und zeigt Geisteswitz in hochphilosophischen Gesprächen, die er mit durchaus skurrilen Reisebekanntschaften führt – darunter Statuen, die des nachts vom Sockel klettern, und Berühmtheiten wie Gabriele D’Annunzio oder Marcel Aymé.

Wobei seine Reise etwas Märchenhaftes hat. Dass er sein Alkoholproblem schon mitgebracht hat, merkt man schon bei seinem ersten Reiseabenteuer in Rom, das ja irgendwie das erste sein muss, denn keine Station der anschließenden Reise führt den stets nach Alkohol verlangenden Helden tatsächlich in die Wüste, die in einer alptraumhaften Szene lebendig wird.

Mit der Szene beginnt die E-Mail-Bekanntschaft des neugierig gemachten Rezensenten mit dem obskuren B., der ihm die ersten Textfragmente des Carl Graff zukommen lässt. Und man darf auch über das „B.“ stolpern, denn das führt Andreas B. Bengsch auch im Namen. Wikipedia entschlüsselt es als Bertolt, womit man schnell bei jenem berühmten Augsburger ist, der 1953 (in Bengschs Geburtsjahr) der Parteiführung empfahl, sich doch ein neues Volk zu suchen, wenn das alte ihr nicht gefalle.

Wobei diesen Carl Graff sichtlich nichts zurückzieht in das kleine Land, das er konsequent Rostland nennt. Nicht nur der Alkohol treibt ihn an – und lässt ihn in immer heiklere und ausweglosere Situationen geraten -, auch das Fernweh. Wenn es denn eins ist und nicht der unbändige Drang, alle Mauern, Grenzen und Unfreiheiten hinter sich zu lassen. Und lieber mit anderen Heimatlosen (gern auch schwarz) über Grenzen zu gehen. Dass er dabei die erstaunlichsten Reiseziele aus der Perspektive des Landstreichers kennenlernt, gehört zum Schwebenden in diesen Geschichten. Er reist, aber er ist kein Tourist. Die Menschen, denen er begegnet, sind andere, genauso Umgetriebene, aber alle mit großem Herzen und Verständnis für die Nöte des aus der Welt gefallenen, auch für seine fiebernde Unruhe, wenn ihm der Stoff ausgeht.

Es sind zuweilen beklemmende Schilderungen, weil Bengsch augenscheinlich viel Kraft darauf verwendet hat, seinen Helden in den tiefsten Nöten zu schildern – Situationen, die beinah ausschließen auch nur daran zu denken, dass es dieser unter seinen Alpträumen Leidende je wieder schaffen wird, von seiner Sucht loszukommen. In Nizza und Monte Carlo jedenfalls hält ihn die Sucht noch fest im Griff.

Die Gute Seele, wie er sie nennt, hat zu kämpfen, ihn überhaupt noch einigermaßen am Laufen zu halten. In einem französischen Städtchen namens Saint Paul aber scheint er sich schon etwas gefangen zu haben. In einem Gartencafé begegnet er hier einem gewissen Jean-Alexis Moncorgé alias Jean Gabin, der ihm aus alten Maigret-Filmen vertraut ist. Sitzt da ein paar Tische weiter nicht Marlene Dietrich?

Machen wir uns nichts vor. Oft sind es Leinwandhelden, die uns so vertraut sind, dass wir das Gefühl haben, sie gehören eigentlich zu unserem besten Freundeskreis. Bei Graff sind es freilich auch und gerade die Schriftsteller. Wobei dieser Teil der Reise wahrscheinlich schon stark von Udo Scheer geprägt sei dürfte. Denn eine E-Mail fast zum Schluss wirkt wie eine tiefempfundene Botschaft an den verstorbenen Freund, auch wenn es hier der gealterte und von der Krankheit gezeichnete B. ist, der sich dem Mail-Empfänger zum letzten Mal zeigt.

Aus der märchenhaften Reise des Carl Graff durch ein Europa, in dem er sich nicht nur heimatlos fühlt, sondern auch heimatlos ist, ein Vagabund und von der Sucht Getriebener, wurde zusehends ein Roman der Versöhnung und des Abschieds. Unterlegt mit einem gewissen Bedauern, dass es solche Bücher in der Welt der oberflächlichen Aufmerksamkeit so schwer haben, überhaupt einen Verlag zu finden und dann auch noch das Wohlwollen der Kritik.

Da überliest man beinah, dass es eigentlich die Geschichte einer tiefempfundenen Entwurzelung ist, die man hier liest. Dass die große Freiheit, die vielen scheinbar geschenkt war, als sie endlich über die Grenze waren, eben doch zuallererst ein Ort des Nichtzuhauseseins war. Carl Graff jedenfalls scheint lange und verzweifelt nach einem Ort zu suchen, an dem er sich wieder zuhause und angenommen fühlt. Den findet er erst nach langer Reise auf einer griechischen Insel. Hier endlich geben die Gespenster Ruhe, die ihn anfangs noch in Alpträume stürzten und mitten aus der Wüste zurückschleuderten in die Verwahranstalten von Rostland.

Hinter der phantastischen Reise verbirgt sich sichtlich auch die Suche nach einem Ort, an dem die Gute Seele wieder Wurzeln fassen kann. In gewissem Sinn also auch die Metapher für eine Zeit der Umhergetriebenen und wurzellos Gewordenen, die sich am ehesten noch in den seltsamen Welten eines Marcel Aymé heimisch fühlen. Seltsam heimisch.

Als könnte man einfach aufstehen und durch die Wand gehen, wie der Mann in Aymés berühmtester Novelle. Die Mauer durchdringen und auf einmal ganz woanders sein: in Graz, in Rom oder Ventimigla. Und sich überhaupt nicht darüber wundern. Weil es viel selbstverständlicher ist als all die Heimatduseleien, die man sonst von Leuten hört, die aus ihrem Teich nie herausgekommen sind.

Udo Scheer; Andreas B. Bengsch Taucher in der Wüste, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2018, 16 Euro.

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