Es ist schon erstaunlich, wie zurückhaltend selbst der Verlag bei der Werbung für dieses Buch vorgegangen ist. Obwohl es – mehr aus Zufall – eigentlich ein Buch zur heutigen Zeitdebatte ist, in der gerade Konservative und Erzkonservative mit aller Macht auch die Aufklärung angreifen und versuchen, in Verruf zu bringen. Gern mit Hinweis auf die fatalen Folgen heutigen Technikglaubens. Aber tatsächlich meinen sie immer die Fähigkeit der Menschen, sich ihrer eigenen Vernunft zu bedienen. Christian Wolff hätten sie so nicht kommen dürfen.

Er gehört nicht nur irgendwie zur Phalanx der deutschen Aufklärung, also irgendwie eingereiht zwischen Männer wie Leibniz, Thomasius, Gottsched, Lessing. Er war zu seiner Zeit im Grunde das Synonym für Aufklärung in Deutschland. Und er hatte das Pech, das auch Universalgelehrte oft nicht haben: dass sie noch zu Lebzeiten das Denken der jüngeren Generationen derart verändern, dass sie noch im Alter erleben, wie diese Jungen sich von diesem „Holzklotz“ abwenden, weil ihnen das alles schon längst überholt scheint.

Oder mal so formuliert: Wir können uns heute gar nicht mehr vorstellen, was da am Beginn des 18. Jahrhunderts in Deutschland und Europa geschah und wie allein Leibniz, Thomasius und Wolff das Zeitgefühl der wissenschaftlichen Community so beschleunigten, dass sich jüngere Generationen seitdem gar nicht mehr vorstellen können, dass nicht fortwährend Neues passiert und entdeckt wird. Denn genau das wird ja spürbar, wenn Leute wie Lessing oder Winckelmann über Wolff schreiben. Für sie wirkte er wie der zum Holzklotz erstarrte Vertreter einer alten Zeit.

Und da die Jüngeren unser Bild von Aufklärung prägen, sehen wir die Alten wie schwerfällige Urzeittiere, nicht schnell, nicht flink genug für das Zeitalter, das sie erst eingeleitet hatten. Thomasius etwa – an dem sich Wolff rieb – mit seinem Kampf für die deutsche Sprache an deutschen Lehrstühlen, was ihm in Leipzig Ärger einbrachte, sodass er nach Halle ging, wo er die dortige preußische Konkurrenzuniversität mitbegründete. Und auch Christian Wolff verließ nach seinem Studium Leipzig, und das muss ebenfalls mit argen Dissonanzen vor sich gegangen sein, denn mehrere spätere Anwerbeversuche der Leipziger Universität schlug er aus und begründete das Briefpartnern gegenüber mit einem deutlichen Unbehagen.

Und so gehört Christian Wolff heute zur Wissenschaftsgeschichte von Halle, obwohl er auch von dort vertrieben wurde im Jahr 1723. Ursache war seine Prorektoratsrede „Rede über die praktische Philosophie der Chinesen“, die den pietistischen Theologen um den Theologieprofessor Lange zum Stein des Anstoßes wurde: Sie denunzierten Wolff beim preußischen König. Das war damals noch Friedrich Wilhelm I., der berühmte Soldatenkönig, der zwar die schlagkräftigste Armee Europas geschaffen hatte – aber lieber keine Kriege führte.

Das tat dann erst sein Sohn Friedrich II., der Wolff 1740 zurückholte aus Marburg, wo der Philosoph, Jurist, Mathematiker und an Chemie und Physik stark Interessierte schon 1723 herzliche Aufnahme fand – zumindest bei den hessischen Landgrafen, die wussten, dass dieser Philosoph Hörsäle füllen konnte und seine Zuhörer begeisterte, weil er seine Vorlesungen zum gemeinsamen Entdecken von Tatsachen und Zusammenhängen nutzte.

Wahrscheinlich sind solche Professoren heute noch Gold wert. Er setzte den jungen Leuten nicht nur Vorgekautes vor, sondern brachte ihnen das rationale Denken beim Vortrag in der Vorlesung bei. Er selbst nannte es mathematisches Denken, weil er die strengen Beweissätze, wie er sie in der Mathematik gefunden hatte, auch auf alle anderen Wissensbereiche anwendete.

Und zu Recht würdigt man ihn bis heute als den großen Begründer des rationalen Denkens innerhalb der Aufklärung. Von ihm führt die Entwicklungslinie direkt zu Kant. Zu Recht wundert sich der Germanist Hans-Joachim Kertscher darüber, dass es bis heute trotzdem keine profunde Wolff-Biographie gab. Aber vielleicht sagt das sogar eine Menge über die deutsche Aufklärungs-Rezeption aus. Zwar gab es – auch in Kertschers Hochschulkarriere ab 1990 – eine interdisziplinäre Erforschung der europäischen Aufklärung.

Aber da leuchten dann in der Regel die französischen Gestirne: Voltaire (der seinerseits unbedingt Wolff in Halle besuchen wollte), d’Alembert, Diderot. Auch Friedrich II. orientierte sich ja nach Frankreich, machte Voltaire zu seinem Hausphilosophen und fand einige abwertende Worte nicht nur für die deutsche Literatur, sondern auch für den viel zu ausschweifenden Christian Wolff. Denn zeitlebens schrieb dieser Universalgelehrte – über das Naturrecht, das vernünftige Denken, die praktische Philosophie.

Weshalb er gerade in seinen letzten Hallenser Jahren als ziemlich ungesellig galt und sein Haus in der Großen Märkerstraße (in dem sich heute das Stadtmuseum befindet) nicht gerade als geselliger Treffpunkt galt. Aber wahrscheinlich hat Kertscher recht, wenn er in Wolffs später Ungeselligkeit seinen Arbeitsgeist sieht, der ihn immer wieder ans Schreibpult trieb, um seine dickleibigen Bücher fertigzuschreiben.

Vielleicht sind es diese dicken Bücher, die die Biografen abschrecken. Wir leben ja in einer 140-Zeichen-Zeit. Danach bricht alle Aufmerksamkeit zusammen. Kaum noch vorstellbar, dass gerade junge Leute damals Wolffs Bücher verschlangen, weil er darin ausführlich erklärte, wie man sich (frei nach Kant) seines Verstandes rational zu bedienen habe, um wirklich belastbare (wissenschaftliche) Erkenntnis zu erlangen. Logisch, dass er damit den Pietisten um August Herman Francke eher ein Dorn im Fleische war.

Von Schwärmerei hielt er nichts. Selbst die christliche Theologie nahm er rational auseinander – und kam dann eben in seiner Rede über die chinesische Philosophie auch zu der Erkenntnis, dass auch die christlichen Europäer von den chinesischen Philosophen eine Menge zu lernen hatten.

Das klang in den Ohren der pietistischen Theologen natürlich wie blanker Atheismus. Und das überschattete seine ersten Hallenser Jahre – bis zur Ausweisung durch den König, der ihn erst nach Halle berufen hatte, nun aber den Einflüsterungen der Schwärmer glaubte (Lessing hatte später ganz ähnliche Kämpfe auszufechten). Und es bald bereute. Er war zwar kein emsiger Leser. Aber er hatte einige Berater um sich, die ihm sehr wohl klarmachen konnten, dass dieser Wolff ganz und gar kein Atheist war – und dass Preußen mit diesem Mann den wohl zugkräftigsten Gelehrten verlor, den es an deutschen Hochschulen gab.

Wolff muss in seinen Vorlesungen tatsächlich so ähnlich gewirkt haben, wie ihn das Cover-Bild zeigt: stolz, zuversichtlich, siegesgewiss und fest davon überzeugt, dass er den Weg entdeckt hatte, wie man in Wissenschaft und Lehre ein klares, rationales und erhellendes Denken einführen musste. Da störten ihn auch die Piesackereien der Pietisten nicht wirklich. Und als die 1723 erreichten, dass er Halle und Preußen verlassen musste, hatte er postwendend lukrative Angebote auf dem Tisch. Leipzig warb um ihn, der russische Zar wollte ihn in seiner Akademie haben und die Landgrafen in Hessen waren happy, als sie diesen Berühmten für ihre eher winzige Universität in Marburg gewinnen konnten.

Ein Grund dafür, warum sich noch niemand an einer umfassenden Biografie versucht hat, liegt natürlich auch darin, dass das eine Gelehrten-Karriere ist. Die Action gibt es bei Wolff nicht in furiosen Fluchten und Medienschlachten (wie bei Voltaire), sie liegt in seinen Briefen und Büchern. Es war ein lebenslanges Abenteuer des Geistes. Und wie abenteuerlich es war, kann auch Kertscher nur in Ansätzen wiedergeben – zu vieles von dem, was von Wolffs Schriftgut noch überliefert ist, ist noch nicht wissenschaftlich aufgearbeitet.

Fast zentral ist der Briefwechsel Wolffs mit seinem sächsischen Verehrer Ernst Christoph Manteuffel, der erst in Berlin für den Philosophen warb, dann aus Leipzig einen lebendigen Briefwechsel mit dem nach Halle Zurückgekehrten führte. Übrigens ist Manteuffel für das Leipziger Aufklärungs-Kapitel von Bedeutung, das bislang genauso spärlich bearbeitet wurde wie das Hallenser. An Gottsched arbeiten sich die Wissenschaftler ja noch ab. Und Gottsched bewunderte Wolff, wurde von ihm auch zu seinem ersten Biografen ernannt.

Und wer ein Gefühl dafür bekommen möchte, was Wolff mit seinen dicken Büchern in unser Denken gebracht hat, der findet bei ihm erstmals zentrale Begriffe wie Bewusstsein, Bedeutung, Aufmerksamkeit. Selbst Leibniz achtete ihn, obwohl er dessen Monaden-Lehre deutlich kritisierte – ganz rational.

„Der Mensch hat nichts vortrefflicheres von Gott empfangen, als seinen Verstand …“, hat die Christian-Wolff-Gesellschaft einen von Wolffs (Halb-)Sätzen zum Motto gewählt. Und diesen Verstand wendete Wolff auf alles an, was ihm begegnete – auch auf die Gesellschaft seiner Zeit. Man ahnt mit Kertscher, welche Faszination dieser Mann auf seine Zuhörer und Leser ausgeübt haben musste und wie seine Gedanken zündeten. Und zwar so sehr, dass selbst Friedrich II. das Gefühl hatte, dass an deutschen Hochschulen nur noch Wolffianer lehrten.

In der Regel gehen Historiker davon aus, dass Wolff im letzten Teil seines Lebens (vergeblich) gegen die neuen französischen Einflüsse kämpfte, sein Werk also noch zu Lebzeiten überholt war. Aber dem war wohl nicht so. Eher macht der wachsende Einfluss der französischen Aufklärer deutlich, wie stark die Vor-Arbeit von Leibniz und Wolff gewirkt hatte: Ihre Schüler waren bereit für das Neue, für neue Erkenntnisse und Aufklärung überall. Die großen Professoren hatten das Handwerkszeug geliefert, genau jenes Handwerkszeug, das Immanuel Kant dann als das Wagnis, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, beschrieb.

Und damit meinte er ganz bestimmt nicht, was unsere heutigen Möchtegerns als „Meinung“ bezeichnen oder gar „Meinungsfreiheit“. Denn zur Benutzung des eigenen Verstandes muss man lernen, wie es geht, braucht es die Fähigkeit zum rationalen Denken und zur Unterscheidung falscher und richtiger Schlüsse. Genau das, was Wolff lehrte. Und wer es gelernt hat, der hält es für selbstverständlich. Und wer es nicht gelernt hat, der quatscht so einen Blödsinn wie: „Muss man doch mal sagen dürfen.“

Es geht beim Denken nicht ums Dürfen, sondern um die rationale Fähigkeit, die richtigen Schlüsse zu ziehen.

Das ist jetzt schon etwas zugespitzt. Man ahnt das Abenteuer dieses Philosophenlebens eigentlich erst, das Kertscher einbettet in die bekannten Lebensfakten und Zeitumstände. Das Persönliche wissen wir im Grunde nur durch die überlieferten Briefwechsel mit ebenso ambitionierten Zeitgenossen. Und am Ende kam es wie so oft: Die Stadt, in der er wirkte, wo er seine Schriften veröffentlichte und deren Universität er unter die führenden ihrer Zeit katapultierte, vermasselte hernach den Umgang mit seinem Grab in der Schulkirche, die irgendwann in ein Theater verwandelt und noch später abgerissen wurde.

Heute steht das Universitätsgebäude am Universitätsplatz genau an dieser Stelle – und wahrscheinlich vermutet Kertscher zu Recht, dass sich Wolffs Grab (zusammen mit anderen Professorengräbern) unter den Fundamenten dieses Gebäudes befindet.

Mit seiner Biographie jedenfalls gibt er einem der wichtigsten deutschen Aufklärer endlich wieder ein Gesicht, holt ihn mit seinen Verdiensten aus der Versenkung und zeigt damit, welche Veränderungen dieser Sohn der Stadt Breslau (wo man ihn natürlich ebenfalls würdigt) im Denken seiner Zeit bewirkt hat. Und wie er seine Zeit damit verändert hat. Und er zeigt, dass er nicht nur in der Philosophie, im Staatsrecht oder der Theologie seine Spuren hinterließ, sondern auch in den Naturwissenschaften Folgen hatte. Man kommt an dem Mann eigentlich nicht vorbei, wenn man wissen will, was im frühen 18. Jahrhundert in den Köpfen der gebildeten Menschen geschah und wie radikal sich unsere Sicht auf die Welt damals veränderte.

Hans-Joachim Kertscher Er brachte Licht und Ordnung in die Welt, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2018, 25 Euro.

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