Nancy Aris hat recht, wenn sie im Vorwort zu diesem Buch betont, dass die öffentlichen Erinnerungen an die DDR auseinanderfallen. Die einen meinen, sie hätten nichts auszustehen gehabt. Die anderen können von Repressionen erzählen, die ihr ganzes Leben verändert haben. Manchmal staunt man schon, wie wenig manche Menschen wirklich mitkriegen vom eigenen Leben. Die Geschichte von Falk Mrázek erzählt davon, dass die Verklärung eigentlich nur funktioniert, wenn man die Begegnungen mit der Staatsmacht völlig verdrängt.

Natürlich erzeugen Diktaturen auch ihre Schönwetterstimmung. Sie schaffen Gruppenzugehörigkeiten und Rituale, meist auch – wie in der DDR – überwältigende Bilder von Solidarität und einer lichten Zukunft. Nur hinterfragen durfte man sie nicht. Dann bekam man Probleme mit dogmatischen Lehrern und Vorgesetzten, landete man unversehens in geradezu kafkaesken Situationen. Und die Wahrheit ist auch: Das wussten alle Bewohner des ummauerten Ländchens. Sie konnten es zwar verdrängen.

Aber jedem Kind wurde von seinen Eltern frühzeitig beigebracht, in der Öffentlichkeit anders zu sprechen als zu Hause, sich vor Polizisten und Parteisekretären zu hüten, lieber den ganzen Quatsch im Staatsbürgerkundeunterricht runterzuleiern und die Konfrontation zu vermeiden. Vielleicht in kritischen und gläubigen Elternhäusern noch etwas stärker als in atheistischen und eher opportunistischen.

Denn Dogmatismus ist etwas, das der kleine Herr K. nicht erfassen kann. Dogmatismus reagiert unberechenbar, wenn er infrage gestellt wird. Und er schafft sich seine dienstbaren Gralshüter und Uniformträger, die auf jede Abweichung mit ihren Systematiken der Überwältigung und Bestrafung reagieren.

Wer ihre Aufmerksamkeit weckte, wurde sie nicht mehr los, der wurde zum Beobachtungs- und Erziehungsobjekt.

Und während das vielen sensiblen, schlicht neugierigen und kreativen Menschen geschah, ohne dass sie es je darauf angelegt hätten, Stasi und Parteibonzen zu reizen, suchten andere diese Konfrontation, weil sie mit diesem Staat nichts mehr zu tun haben wollten. Unter ihnen natürlich all jene, die Erich Honeckers Unterschrift unter die Schlussakte von Helsinki 1975 wirklich ernst nahmen, die ja sogar im „Neuen Deutschland“ abgedruckt worden war. Wenn der Staatschef diese Schlussakte unterzeichnet, dann bedeutet das doch wohl auch, dass die darin verbrieften Rechte auch für jeden DDR-Bürger gelten, oder?

Falk Mrázeks Eltern jedenfalls nahmen die Sache ernst und stellten einen Ausreiseantrag zur „Familienzusammenführung“. So wie tausende andere DDR-Bürger in dieser Zeit auch. Und sie erlebten dann, dass die Behörden ganz und gar nicht geneigt waren, diese Anträge zu befürworten. Man ließ die Antragsteller schmoren, sorgte auch gleichzeitig dafür, dass ihre beruflichen Karrieren endeten oder – wie im Fall von Falk Mrázek – die Schullaufbahn. Ein Einser-Zeugnis am Ende der 10. Klasse genügte nicht mehr, auch noch die Abiturstufe zu besuchen. Der Traum vom Studium war geplatzt.

Und während der Junge aus Bischofswerda gezwungenermaßen eine Lehre begann, begannen in ihm auch Pläne zu reifen, mit einem gewissen Druck Bewegung in die Sache mit dem familiären Ausreiseantrag zu bringen. Kurz vor seinem 18. Geburtstag fuhr er nach Berlin und drang direkt am Brandenburger Tor in den Grenzsicherungsstreifen ein, wurde logischerweise verhaftet und bald wegen versuchter Republikflucht angeklagt.

Und wahrscheinlich hätte er nie dieses Buch geschrieben, wenn ihn nicht Volker Bausch bei einem Besuch im einstigen Stasi-Gefängnis auf dem Kaßberg in Chemnitz dazu überredet hätte, seine Geschichte aufzuschreiben. Denn wenn diese Geschichten nicht erzählt werden, verschwinden sie aus dem gesellschaftlichen Gedächtnis, wird die DDR weiter verharmlost und wird bei Menschen, denen das Engagement in der Demokratie fremd ist, zum Sehnsuchtsort.

Sie können sich nicht vorstellen, wie abgeschlossene Regime funktionieren. Sie können sich augenscheinlich auch die lähmende Stimmung in der DDR nicht mehr vorstellen, die sich 1989 so vehement entlud.

Da war Falk Mrázek längst im Westen, hatte sich seinen Traum von Abitur, Studium und Journalistenlaufbahn erfüllt.

Aber als er sich 1978 auf den Weg nach Berlin machte, wusste er noch nicht wirklich, wie die Untersuchungshaftanstalten, Gefängnisse und Arbeitslager in der DDR aussahen und funktionierten. Denn die waren für die Öffentlichkeit systematisch abgeschirmt. Nur ihr Ruf ging als schwelendes Gerücht durchs Land – Schwedt und Bautzen waren solche Synonyme, die allgegenwärtig waren, die Stasi-Haftanstalt Kaßberg in Chemnitz (damals Karl-Marx-Stadt) eher nicht. Sie war eher ein Gerücht unter all jenen, die raus wollten aus der DDR und zumindest gehört hatten, dass Menschen, die vom Westen „freigekauft“ wurden, alle über Karl-Marx-Stadt verbracht wurden.

Am Ende landete auch Falk Mrázek auf dem Kaßberg. Aber er ahnte nicht, was er bis dahin alles durchmachen würde. Akribisch schildert er in diesem Buch, wie die Idee zu seiner Aktion am Brandenburger Tor entstand, wie er die Verhaftung und die Tage in der Untersuchungshaft erlebte, die Verhöre, die Gerichtsverhandlung und die Verschickungen in immer neue Haftanstalten mit ihren nach Urin und Desinfektionsmitteln stinkenden Zellen.

Was er überhaupt nicht auf dem Radar hatte, war der Einsatz im Straflager Bitterfeld, wo Strafgefangene unter unzumutbaren Bedingungen in der Chemie-und Aluminium-Produktion eingesetzt wurden – ohne Schutzausrüstungen, mit uralten Maschinen aus der Vorkriegszeit und unter permanenter Gefahr von Bränden und Explosionen.

Und seine Schilderungen vom grauen, smogverdunkelten Bitterfeld erinnern ebenfalls an etwas, was die Leichtgläubigen heute einfach vergessen wollen: Unter welch umweltschädlichen Bedingungen im Chemiedreieck um Bitterfeld produziert wurde und wie die DDR-Wirtschaft auf Verschleiß gefahren wurde.

Zumindest ein Bild zu diesem Straflager gibt es im Buch. Gerade diese Anlagen, die davon erzählten, wie rücksichtslos die Staatsmacht mit ihren Strafgefangenen umging, verschwanden 1990 verblüffend schnell. Und die vielen, die hier unter unwürdigen Bedingungen lebten und arbeiteten, haben in der Regel eben nicht aufgeschrieben, was sie erlebt haben.

Was übrigens an die psychologische Seite dieser Geschichte erinnert: In der DDR selbst waren sie zum Schweigen verdonnert. Und viele leiden unter dem Trauma bis heute. Nicht alle fanden unter den unaushaltbaren Bedingungen Freunde, wie es Falk mit dem älteren Strafgefangenen Peter gelang, der ihn in brenzligen Situationen unter die Fittiche nahm und beschützte. Daraus entstand eine Freundschaft fürs Leben.

Und mehrfach betont der Autor, dass er einem Menschen wie Peter unter normalen Umständen nie begegnet wäre. Eine Aussage, die noch etwas anderes impliziert. Denn ihre Erinnerungen haben fast nur Menschen aufgeschrieben, die auch akademische Bildungsgänge durchlaufen haben. Viele von ihnen später sogar erfolgreich als Forscher, Schriftsteller oder – wie Falk Mrázek – als Journalisten. Es kann durchaus sein, dass gerade die Erinnerungen der eher „bildungsfernen“ Betroffenen, die mit dem Strafregime der DDR aneinandergerieten, nicht festgehalten werden und damit komplett aus der Überlieferung verschwinden.

Denn unübersehbar ist in vielen Veröffentlichungen in dieser Buchreihe des Sächsischen Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur auch, dass die meisten Autor/-innen sich ihrer Widerständigkeit und aller Implikationen eines Mutes zum aufrechten Gang schon damals sehr bewusst waren. Sie haben ihr ganz persönliches Verhältnis zum Land, in dem sie lebten, und den Möglichkeiten, ihre Lebensträume darin zu verwirklichen, reflektiert. Weshalb oft auch der Eindruck entsteht, dass der Widerstand in der DDR vor allem von Intellektuellen getragen wurde.

Von Menschen, die sich mit dem So-Seienden nicht abzufinden bereit waren. Und die auch sehr genau empfanden, wie die Mechanismen der Entmutigung, der Schikane und psychischen Zermürbung im Knast und in den Verhören funktionierten. Das wird auch bei Falk Mrázek deutlich, der seine Leser/-innen auch mit hineinnimmt in die langen Phasen der Ungewissheit, in denen Gefangene in der DDR gehalten wurden – ohne konkrete Informationen, was man mit ihnen vorhatte, wie lange sie in den tristen Zellen bleiben würden, ob sich ihr Prozess überhaupt weiterentwickelte.

Was sich dieser junge Mensch, der in der Untersuchungshaft seinen 18. Geburtstag beging, nicht immer gefallen ließ. Immer wieder begehrte er auf, forderte die uniformierten Befehlsträger heraus, nicht wissend, ob das nicht zu weiterer Strafverschärfung führen würde.

Die Hoffnung, am Ende dann doch in den Westen entlassen zu werden, ließ ihn durchhalten. Und im Juni 1979 war seine beklemmende Odyssee dann tatsächlich vorbei, konnte er mit einem jener legendären Reisebusse in den Westen ausreisen.

Ohne die freundliche Aufforderung aus der Kaßberg-Gedenkstätte in Chemnitz hätte er seine Geschichte wohl nie aufgeschrieben, eine Geschichte, die tatsächlich zeigt, wie schmal der Grat war zwischen der friedlichen Koexistenz mit der Staatsmacht und der Begegnung mit all ihren Strafwerkzeugen, die auch deshalb funktionierten, weil sie die Friedlichen und Braven einschüchterten.

Man lernte, die Konfrontation mit der Staatsmacht zu vermeiden. Viele haben das bis heute verinnerlicht. Auch das gehört zur ostdeutschen Geschichte. Die rot-gelbe Buchreihe ist ein sehr lesenswertes Angebot für alle, ihre Scheu vor der dunklen Seite der Wahrheit zu überwinden. Es ist wichtig, gerade wenn Autoren wie Falk Mrázek schildern, wie Widerständigkeit zur Lebensmaxime werden kann.

Falk Mrázek Erwachsenwerden hinter Gittern, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2020, 12 Euro.

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