Als der in Ilmenau heimische Rhino Verlag diesen Aphorismen-Band des in Erfurt lebenden Arztes Siegbert Kardach ins Frühjahrsprogramm nahm, war von Corona noch nichts zu merken, der Shutdown noch nicht mal zu ahnen. Aber wer die Zeit mit zugespitzten Gedanken begleitet, der ist selbst dann aktuell, wenn so etwas passiert. Denn mit dem Auftauchen eines Virus kann man nicht so genau rechnen, mit der Einfalt der Menschen schon.

Und als praktizierender Internist in Erfurt hat Kardach bis 2005 die Menschen kennengelernt, so, wie sie sind. So wie sein jüngerer Kollege Göran Wild in Leipzig, der darüber ja ein herrlich pointiertes Buch geschrieben hat: „111 Gründe, kein Arzt zu werden“.

Beim Arzt kann man sich nicht verstellen, egal, welche Märchen man dem Onkel Doktor erzählt, welche Ausreden man erfindet. Unser Körper lügt nicht. Eher meldet er dem besorgten Doktor, dass der so redegewandte Patient mal wieder lauter Ausreden von sich gibt oder auch Fakenews.

Mancher bläst sich auf, mancher versteckt die eigentlichen Sorgen, mancher will gar noch klüger sein als der Arzt. Gibt es alles. Es ist wie im richtigen Leben, nur dass wir dort alle diese Rollenspiele meist unwidersprochen hinnehmen. Oder gar in die Parlamente wählen.

Das ist das Thema, das in Kardachs nunmehr fünften Aphorismen-Band besonders häufig anklingt: sein ganz sokrates’sches Erstaunen darüber, was für Dampfnudeln, Aufschneider, Nichtskönner und Großmäuler sich da in die Politik drängeln, speziell die thüringische, die ja nun seit der jüngsten Fast-Ministerpräsidentenkür ihr Kapitel im Buch von Schilda sicher hat.

Was zwar neulich erst geschah, aber nicht so neu ist. Wir vergessen ja so gern, dass dieser Drang ins Licht, den gerade Menschen mit kleinkariertem Verstand und übersteigertem Geltungsbedürfnis an den Tag legen, auch vorher schon da war. Sie finden in unserer von Eitelkeiten besessenen Welt ihre Bühne und fühlen sich pudelwohl gerade da, wo ihre Inkompetenz in alle Himmelsrichtungen leuchtet.

„Koketterie: Eine Welt, die Betrüger erzieht, wundert sich kopfschüttelnd, woher Betrüger kommen.“

Muss man wirklich erst in das gesegnete Alter des Erfurter Internisten kommen, um die Wurzeln für unseren heutigen Jahrmarkt der Eitelkeiten nicht irgendwo in dunklen Provinzen zu suchen, sondern im Kern unserer Gesellschaft? Da, wo smartes Auftreten, vorlaute Besserwisserei und rücksichtsloser Karrierismus immer belohnt werden? Gern verknüpft mit Liebedienerei und Opportunismus. Kardach schreibt seine Gedanken zum Tage einfach immerfort auf, tausende in einem Jahr.

Da braucht es schon Unterstützer, die das alles abschreiben, ausfiltern, auf ein Büchlein eindampfen, das man sich genauso wie seinen Lichtenberg einfach ins Regal überm Schreibtisch stellen kann, leicht erreichbar, wenn einem wieder so ein Stück menschliche Ignoranz den Tag verdorben hat. Aufschlagen irgendwo: „Zeitlos: Es fällt auf, dass Wohlhabende und Gesunde immer intensiver leiden als wahrhaft Arme und Gebrechliche.“

Muss man erst Arzt werden, um das zu bemerken? Oder reicht das Gespräch über den Gartenzaun? Eins, bei dem man nicht nur nickt und dem anderen immerfort recht gibt, damit die Stimmung nicht kippt? „Durchdacht reden ist schwierig. Quatschen kann jeder.“ Man merkt regelrecht, dass er wieder mal so einem Mitmenschen begegnet ist, der viel zu reden hatte – und nichts zu sagen. Das nervt. Gerade wenn man weiß, wie wertvoll Gespräche sind, bei denen der andere auch zuhört und sich nicht bloß aufspielt.

Aber davon gibt es immer weniger. „Dummheit – mit dynamischer Energie ausgestattet – schafft es bis in hohe Ämter.“ Manche dieser kleinen Sprüche erinnert einen auch an Laurence J. Peter, der ja mit seinem „Peter-Prinzip“ die Dynamik einer hierarchischen Gesellschaft beschrieben hat, in der jeder solange befördert wird, bis er die absolute Stufe seiner Unfähigkeit erreicht. Deswegen arbeiten kluge Menschen ungern in Hierarchien, werden lieber Arzt oder Solo-Selbstständiger – und müssen sich dann von unwissenden Bürokraten erzählen lassen, was sie doch für ein unnützes Volk sind.

„Hohe Stufen des Unwissens sind für alle erreichbar“, schreibt Kardach, der sich keine Illusionen mehr machen muss darüber, wie sehr der Aufbau unserer Gesellschaft ein Narrenstadel ist, in dem Begabung, Selbstbewusstsein und Mut früh schon aussortiert werden. Für die üblichen gut bezahlten Karrieren sind sie alle nicht nützlich. Damit verärgert man nur die Chefs, die „Chefs“ und die „,Chefs‘“. All die Eitlen, die fürs Leben beleidigt und gekränkt sind, wenn man auch nur zart eine Kritik andeutet. Gibt’s auch in Leipzig. Jeder kennt sie.

Was nicht bedeutet, dass Kardach resigniert hat, auch wenn sich einige Sprüche sehr ernsthaft mit dem Alter beschäftigen, in dem einem wirklich bewusst wird, dass man hinfort ganz bestimmt keine Bäume mehr ausreißen wird. Und in dem es höchste Zeit ist, sich seiner Selbsttäuschungen zu entledigen, all der Erwartungen, irgendjemand schulde einem noch was. „Wenn unsere Ansprüche an andere so gering wären, wie die an uns selbst, gäbe es kaum Enttäuschungen.“

Natürlich haben wir völlig überzogene Erwartungen – an andere, an das Glück, die Liebe, die Zeit. Und fallen deshalb immer wieder auf Blender und Vielversprecher herein, tun so, als müssten wir nicht erst mal unser Eckchen und unsere paar Beziehungen in Ordnung bringen, bevor wir über andere herziehen.

Aber das ist ja regelrecht zum Sport geworden, unsere Gesellschaft ist außer sich. Und die am wenigsten vollbringen, schreien am lautesten. Aber: Das ist nicht ganz neu. „Mit der Politik ist es wie mit der Medizin: Patienten, die nichts als die reine Wahrheit hören wollen, wechseln nach dieser enttäuscht den Arzt.“

Was die Medien so fein unterscheiden und rubrizieren, gehört alles zusammen. Wahrscheinlich bräuchten wir mehr Ärzte in den Redaktionen, Leute, die mit nüchternem Blick auf den Befund ihre Diagnose erstellen zum aktuellen Krankheitsbild der Gesellschaft. Dem, was wir uns zusammengewählt haben, weil wir die Wahrheit zwar gern im Munde führen, aber schnell den Arzt wechseln, wenn er sie uns sagt.

Wir haben eine Art Weihnachtsüberraschungs-Verhältnis – nicht nur zur Politik, sondern zum ganzen Leben. Ständig wollen wir beschenkt werden, glauben immerfort, zu kurz gekommen zu sein, und hängen dem nächsten Verführer an den Lippen, der uns verspricht, wir müssten so gar nichts tun, um immerfort beschenkt zu werden.

„Des Kaisers neue Kleider gehören zum Elemetarfundus jeder Gesellschaft.“

Aber man sage ja keinem ins Gesicht, dass er so herumläuft wie der Kaiser. Erst recht nicht, wenn er ein bisschen Macht besitzt. Dann wird er gefährlich, denn das kratzt an seiner Lebenslüge: „Wer unter der festen Überzeugung leidet, unentbehrlich zu sein, ist entbehrlich.“

Und bevor wir das ganze Büchlein zitieren, das ganz gewiss in ein gut bestücktes Aphorismen-Regal gehört, noch dieser: „Bedenkenträger sind selten Selbstlose.“

Es ist wahrscheinlich die schönste Beschäftigung im Unruhestand, genau das zu tun: Jeden Tag aufzuschreiben, was man da draußen in der Welt der Menschen an Sonderbarkeiten entdeckt. Wer die Menschen kennenlernen will, liest nicht die dicken Bücher der Philosophen, sondern die kurzen Sentenzen unserer Aphoristiker. Und wir haben welche in Deutschland. Das beruhigt.

Siegbert Kardach Kluge Köpfe rollen am schnellsten, Rhino Verlag, Ilmenau 2020, 5,95 Euro.

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