Dieses Buch ist der Hammer und wer ein schwaches Herz hat, sollte am besten einen Kamillentee dazu trinken, denn selbst die handelsรผblichen Kriminalromane sind nicht so aufregend. Hier geht es um Leben und Tod, um das richtige Leben. Und um die elementare Frage, warum man die aufopfernde Arbeit von Pflegekrรคften und ร„rzt/-innen nicht (mehr) als systemrelevant bezeichnen sollte.

Das Problem ist nicht das Wรถrtchen relevant, sondern das Wort System. Und fรผr das marktradikale Finanzsystem waren einige der 2008 ins Straucheln geratenen GroรŸbanken systemrelevant. Was schon damals so verkauft wurde, als wรคre die Rettung dieser Banken fรผr die Gesellschaft wichtig. Was sie nie wirklich war. Aber solche Irrtรผmer stecken im Wort System.Am Ende erfahren wir โ€“ wenn sich der Pflegerechtler Thomas Klie und der bayrische Landtagsabgeordnete der Grรผnen und ausgebildete Gesundheitspfleger Andreas Krahl รผber das Buch von Maximiliane Schaffrath unterhalten, warum der ehrlichere Begriff fรผr die Menschen in unserem Gesundheitssystem gesellschaftsrelevant ist. Genau das haben wir ja im Corona-Jahr erfahren: Ohne sie geht gar nichts.

Sie sind diejenigen, die alles abfangen mรผssen, wenn eine Pandemie รผber das Land rollt. Und sie standen schon vorher unter Druck und Stress und haben unter Bedingungen gearbeitet, unter denen viele Menschen nie im Leben arbeiten wรผrden. Und das meist nicht nur, weil sie sich irgendwie ihren Lebensunterhalt verdienen mรผssen, sondern weil sie sich genau so einbringen wollen fรผr andere Menschen.

Doch genau diese Bereitschaft zu helfen wurde รผber Jahre ausgenutzt. Die Arbeitsbedingungen haben sich radikal verschรคrft und verschlechtert. Immer weniger Pfleger/-innen sind fรผr immer mehr Patienten zustรคndig. Und das Klatschen im Frรผhjahr 2020 hat die Schรคbigkeit ihnen gegenรผber eigentlich nur unterstrichen. Genauso wie das falsch gesungene Heldenlied. Sie wollen keine Helden sein, sagt Krahl. Sie wollen einfach nur gute Arbeitsbedingungen, in denen sie auch merken, dass ihre Arbeit gewรผrdigt und geachtet wird.

Vielleicht tut sich ja wirklich etwas, nachdem auch die siebenstรผndige Doku von Joko und Klaas auf Pro Sieben รผber den Alltag von Pflegekrรคften (und hier) so viel Aufmerksamkeit bekommen hat.

Eine Aufmerksamkeit, die auch Maximiliane Schaffraths Buch verdient hat, denn sie erzรคhlt hier in einem geradezu atemberaubenden Tempo aus ihrer Zeit, als sie die Ausbildung zur Krankenpflegerin durchlief. Und zwar in 13 Kapiteln, denn in ihren Praxiseinsรคtzen in der Ausbildung hat sie 13 verschiedene Stationen am Krankenhaus und der ambulanten Sozialstation durchlaufen.

Mit ihr lernen wir diese meist vรถllig verschiedenen Abteilungen kennen, kommen in die Gynรคkologie, die Urologie, die Hรคmatologie, erleben eine Intensivstation und die Dramen auf scheinbar ganz normalen Stationen. Wir erleben vom Dienst abgestumpfte Schwestern und hochmotivierte Kolleg/-innen, die trotzdem verzweifeln, weil der Dienst in personell vรถllig unterbesetzten Stationen sie nicht nur seelisch zermรผrbt, sondern auch kรถrperlich.

Und wir erleben mit Maximiliane Schaffrath natรผrlich auch die Patienten, fรผr die im durchgetakteten Krankenhausbetrieb kaum Zeit bleibt, schon gar nicht fรผr ein persรถnliches Kennenlernen und das Aufbauen von Vertrauen, das aber so wichtig ist fรผr jede Heilung. Krahl geht spรคter genauer darauf ein, woran das liegt und welche Verheerungen die รถkonomischen Pauschalsysteme im Gesundheitswesen angerichtet haben.

Besonders betroffen von dieser knallharten Abrechnung nach Pauschalen sind ausgerechnet die Kreiskrankenhรคuser, die eigentlich die Grundversorgung รผberall im Land sicherstellen sollen, aber letztlich in die Roten Zahlen rutschen, weil Grundversorgung keine Gewinne bringt. Da รผberrascht es nicht, dass neoliberale Stiftungen die SchlieรŸung dieser โ€žunrentablenโ€œ Krankenhรคuser fordern, was natรผrlich dafรผr sorgen wรผrde, dass noch mehr Menschen in den lรคndlichen Rรคumen schlechter versorgt werden und die groรŸen zentralen Krankenhรคuser aus der รœberlastung gar nicht mehr herauskommen.

Es braucht mehr Menschen in der Pflege. Das merkt man schon frรผh, wenn Maximiliane in solche unterbesetzten Stationen kommt und praktisch vom ersten Tag an selbst mit anpacken muss, weil weder ihre Betreuerin noch sie selbst freigestellt werden kรถnnen. Und wenn sie Glรผck hat, bekommt sie Betreuer, die ihr alles genau zeigen und erklรคren. Aber sie hat auch auf einigen Stationen richtig Pech, wo der Frust der Schwestern augenscheinlich so groรŸ ist, dass sie ihn nur noch an den Ausbildungsschwestern auslassen.

Was alles miteinander zu tun hat. Gerade weil die Autorin aus jeder ihrer Lehrstationen sehr lebendig und bildhaft erzรคhlt, bekommt man mit ihr einen Einblick in die Welt der Pflegekrรคfte, den es so in einem Buch noch nicht gab. Sie lรคsst auch ihre eigenen Erfahrungen nicht weg, die Probleme mit Schichtdiensten, mit den fast schon zum Beruf gehรถrenden Rรผckenschmerzen, aber auch die Panik, die entsteht, wenn sie auf einer Station wochenlang nur gemobbt wird, ohne dass es dafรผr einen ersichtlichen Grund gibt.

Mit so manchem Patienten fiebert sie mit โ€“ auch noch รผber den Einsatz auf der Station hinaus. Und was sie von ihren Betreuern nicht erfahren kann und was auch nie Lernstoff in der Schule war, schlรคgt sie nach dem Dienst nach. Denn sie will es wirklich wissen. Und man bekommt schon frรผh eine Ahnung, warum Krahl fรผr eine deutliche Aufwertung des Pflegeberufs wirbt. Denn aus der einst nur als Helferin des Arztes gedachten Rolle sind die modernen Pfleger/-innen lรคngst herausgewachsen.

Was sie in ihrer dreijรคhrigen Ausbildung lernen, grenzt eigentlich schon an ein Hochschulstudium. Aber eben anders gewichtet als ein Medizinstudium. Denn sie kรผmmern sich in den Krankenhรคusern und Pflegestationen ja um all das, was vorbereitet und abgesichert sein muss, damit die Fachรคrzt/-innen arbeiten kรถnnen. Und wir erleben โ€“ auch wenn die Hierarchien im Krankenhaus oft streng und unรผberwindlich sind โ€“ einige ร„rzt/-innen, die sich mit ganzer Kraft ihrem Dienst am Patienten widmen und โ€“ wenn es sein muss โ€“ auch 20 Stunden im OP stehen, wenn es um die Rettung eines Lebens geht.

Aber wir sehen es eben auch mit den Augen der Schรผlerin, die mittlerweile weiรŸ, was die Pfleger/-innen die ganze Zeit leisten und heranschaffen mรผssen, damit der Arzt tatsรคchlich konzentriert arbeiten kann. Und darunter sind einige Spezialisten wie zum Beisiel die Pfleger/-innen auf der Intensivstation.

Und sie dรผrfen sich genauso wenig Fehler leisten wie die ร„rzte. Man lernt im Grunde ein System kennen, in dem sich alle auf alle anderen verlassen kรถnnen mรผssen, in dem Pfleger/-innen Krankenakten verstehen mรผssen und selbststรคndig die Versorgung selbst schwierigster Patienten organisieren mรผssen. Und das unter einem Zeitdruck, der weder von der Ausbildung gewollt noch in den Richtlinien der Krankenhรคuser so vorgesehen wird.

Krahl erlรคutert es am Ende im Gesprรคch mit Klie ein wenig, warum die stupide ร–konomisierung des Gesundheitssystems aber genau dazu fรผhrt, dass schon in der Pflegeausbildung die Hรคlfte der Bewerber/-innen durchfรคllt und tausende, die den Abschluss โ€“ wie Maximiliane โ€“ am Ende doch geschafft haben, trotzdem nur drei, vier Jahre im Beruf bleiben und lieber umschulen, weil die Arbeit sie krank macht.

Nach ihrem Einsatz in der Dermatologie, wo sie weitere tragische Patientenschicksale erlebt hat, aber auch eine Prรผfung, die mit Fairness nicht mehr allzu viel zu tun hatte, schreibt sie: โ€ž(โ€ฆ) aber mir ist klar, ewig kann ich diesen Beruf nicht ausรผben, und ich glaube, dass es eigentlich unter diesen Bedingungen keiner kann. Und die, die es trotzdem tun, die wissen ganz genau, dass sie einen Preis dafรผr zahlen, sei es in Form von Burn-outs, Depressionen, Bandscheibenvorfรคllen oder ewigen Rรผckenschmerzen. Und sie zahlen ihn, weil sie Geld brauchen oder weil sie eine Familie ernรคhren mรผssen. Ich verurteile niemanden, denn jeder Mensch hat seine Grรผnde, warum er etwas tut. Aber es stimmt mich traurig, dass eine eigentlich wunderschรถne und sinnerfรผllte Arbeit durch die Bedingungen krank macht.โ€œ

Es geht nicht um Sonderzahlungen oder irgendwelche Heldengesรคnge. Mit Maximiliane Schaffrath erleben wir den echten Alltag von Pflegerinnen und Pflegern mit, schauen auch kurz in die tragischen Welten der krank gewordenen Menschen, die natรผrlich alle Hoffnung darauf setzen, dass sie hier die bestmรถgliche Hilfe bekommen.

Und in einigen Kapiteln erfahren wir natรผrlich auch, wie professionell und auf hรถchstem medizinischen Stand alles funktioniert. Wir haben noch ein Gesundheitswesen, das wirklich staunen lรคsst, was alles mรถglich ist, wenn ein Staat es nicht dem Markt zum FraรŸ vorwirft.

Aber die Pflegekrรคfte merken seit Jahren, dass all die politisch gesetzten Sparprogramme letztlich immer auf ihre Kosten gehen. Dass letztlich einfach ausgenutzt wird, dass Menschen, die so einen Beruf erlernt haben, lieber die Zรคhne zusammenbeiรŸen und durchhalten, solange sie kรถnnen, als einfach aus dem Beruf zu flรผchten. Aber viele Interessierte verliert dieses System schon in der Schule, wo sie im Widerspruch zwischen Lehrstoff und erlebter Praxis entmutigt werden. Und das Klima auf manchen Stationen ist so, dass auch die Autorin sich nicht darรผber wundert, dass hier niemand anheuern will.

Gerade weil sie ihre Emotionen nicht weglรคsst und die eigenen gesundheitlichen Tiefschlรคge, hat man nach dieser atemlos machenden Fahrt durch ein modernes Krankenhaus mit seinen so vรถllig unterschiedlichen Abteilungen eine recht plastische Vorstellung davon, wie der Pflegeberuf heute ist. Und auch davon, was sich รคndern mรผsste, um ihn nicht nur attraktiver, sondern letztlich gesรผnder zu machen.

Denn genau hier ist das Wort systemrelevant wirklich falsch. Systemrelevant ist diese Arbeit nur fรผr ein falsches System, in dem auf Kosten der Beschรคftigten gespart und geknausert wird. In Wirklichkeit aber ist unser Gesundheitswesen gesellschaftsrelevant. Und es hat gewaltig damit zu tun, jetzt die dritte Corona-Welle aufzufangen. Und die Hauptlast mรผssen all die Menschen tragen, die den wertvollen Beruf der Krankenpflege erlernt haben. Sie sind es, die die vielen Patienten betreuen, die mit ihren Erkrankungen auf Station landen.

Und das oft unter heftigsten Bedingungen, denn mit Eiter, Blut und Ausscheidungen haben sie stรคndig zu tun. Das ganze Buch ist eigentlich ein leidenschaftlicher Appell, die Arbeitsbedingungen fรผr unsere Pflegerinnen und Pfleger endlich zu verbessern und ihren Beruf tatsรคchlich aufzuwerten. Denn hier stehen Profis auf ihrem Gebiet neben den ร„rzt/-innen, Profis, auf die sich die Fachmediziner blindlings verlassen. Hier muss die Achtung vor dem Beruf und den Menschen beginnen.

Und hier steckt โ€“ wie Krahl betont โ€“ unser notwendiges Begreifen, dass es etwas viel Wesentlicheres als Systemrelevanz gibt, nรคmlich Gesellschaftsrelevanz. Ohne einige GroรŸbanken wรผrde das Leben trotzdem weitergehen. Ohne unsere Pflegekrรคfte aber wรผrde unsere Gesellschaft zusammenbrechen. Es gibt noch ein paar andere so gesellschaftsrelevante Berufe. Aber hier ist es 2020 nun einmal endlich offenkundig geworden, dass sich etwas รคndern muss.

Aber die Empfehlung mit dem Kamillentee sollten Leser/-innen ernst nehmen. In einigen Kapiteln geht es wirklich um Leben und Tod und wir fiebern mit, weil auch die Autorin mitfiebert. Denn das ist der Punkt, an dem sich unsere ganze Menschlichkeit bรผndelt: Welchen Einsatz wir zeigen, wenn es wirklich um die Rettung von Menschenleben geht.

Maximiliane Schaffrath Systemrelevant, Hirzel Verlag, Stuttgart 2021, 18 Euro.

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