Natürlich hat die deutsche Politik im August auch dieses Jahres gedacht: dem Bau der Berliner Mauer vor 60 Jahren. Und es ging fast überall ähnlich melodramatisch zu, während die Republik längst wieder über den Riss debattiert, der wieder – oder immer noch – zwischen West und Ost aufklafft. Genau in dieser Reihenfolge. Da ging fast unter, dass eigentlich die große Kunstausstellung zur „Mauer“ gefehlt hat.

Vielleicht, weil alle glauben, dieses Bauwerk, das 28 Jahre Berlin geteilt hat, sei mit ikonischen Fotografien genug im Gedächtnis der Zeitgeschichte verankert. Die Bilder vom Mauerbau sind genauso oft in den Medien präsent wie die vom 9. November 1989, als die Ostberliner einfach die Grenzkontrollen überrannten. Dass da etwas fehlen könnte, fällt erst auf, wenn man die reale Mauer von damals mit dem heute noch immer spürbaren Riss zusammendenkt.Dann sieht man nämlich mehr. Dann sieht man nämlich, dass die deutsche Teilung tiefer reicht als Mauerfundamente. Und dass sie mit einem Einigungsvertrag, Mauerspechten und schönen Jahrestagsreden nicht zu kitten ist. Denn natürlich begann sie auch nicht am 13. August 1961. Da wurde sie nur in Beton und Stacheldraht für alle Welt sichtbar und manifest.

Einer, der weiß, wie tief die Spaltung auch die Seele des Landes zerrissen hat, ist Bernd Lindner. Bis 2015 war der Kulturhistoriker als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig tätig. Und das für die Bundeszentrale für politische Bildung erarbeitete Buch legt zumindest die Vermutung nahe, wie er die Jahre danach genutzt hat.

Denn dieses Buch ist nicht nur 400 Seiten dick geworden und enthält die Abbildungen von 420 Kunstwerken von 266 Künstlerinnen und Künstlern aus Ost und West. Es ist auch erstmals das, was Michael Hametner in der offiziellen deutschen Kunstszene schmerzlich vermisst: Ein Band, der beide Seiten zusammenführt und eben nicht teilt oder mit der Arroganz des westdeutschen Feuilletons verachtungsvoll auf die ostdeutschen Künstler/-innen herabschaut.

Genau das, was seit 30 Jahren mehrfach in unterschiedlichsten Ausstellungen hätte passieren müssen – und nie passiert ist. Im Gegenteil: Der Weimarer Bilderstreit von 1999 steht bis heute geradezu typisch für die Ignoranz und Arroganz eines eigentlich komplett vom westdeutschen Kunstfeuilleton dominierten Zustands der Nicht-Vereinigung, der Ausgrenzung und Abwertung all dessen, was da im Osten geschaffen wurde.

Fast hätte ich das Wort Prozess benutzt. Aber wenn Leute nicht weiterdenken und ihre alten Sichtweisen verändern, entsteht kein Prozess. Dann bleibt alles im alten Trott, wird nichts Neues an Kunsthochschulen vermittelt und die Teilung bleibt in Museen und Sammlungen noch über Generationen erhalten. Und zwar nicht als künstlerischer Gegenstand, sondern als Blind- und Leerstelle. Man bleibt lieber so dumm und nichtswissend wie zuvor.

Das Buch beweist freilich, dass das mit der Wirklichkeit der Kunst in Deutschland nichts zu tun hat. Und mit der von den Künstler/-innen in Ost und West reflektierten Zeitgeschichte schon mal gar nichts. Eher verstärkt sich der Verdacht, dass die westdeutschen Akteure das alte politische Postulat einfach nicht aus ihren Köpfen bekommen, dass allein Westdeutschland Deutschland ist und damit normsetzend für alles. In diesem Postulat kommt der Osten immer nur als „das Andere“ und Nicht-Dazugehörende vor.

Dabei wussten es alle die ganze Zeit. Und die Künstler/-innen in beiden Landesteilen haben es von Anfang an reflektiert. Und Anfang heißt in diesem Fall eben: 1945, auch wenn Lindner eher in den nach 1949 stattfindenden gesamtdeutschen Kunstausstellungen in Dresden den Beginn der Reflexion sieht. Aber diese Kunstausstellungen stehen eher dafür, wie beide Regierungen in Ost wie West emsig daran arbeiteten, die Beziehungen zu kappen und den Austausch zu unterbinden.

Schon zur dritten Kunstausstellung waren Künstler/-innen aus Westdeutschland praktisch nicht mehr vertreten. Lindner skizziert die politischen Hintergründe nur, hinter denen ja auch die so gern verleugnete simple Tatsache steht, dass die Teilung das direkte Ergebnis des Zweiten Weltkriegs war und aus Sicht der Allierten auch ein durchaus gelungener Versuch, das aggressive Deutschland hinfort daran zu hindern, wieder zur einer bedrohlichen Militärmacht zu werden.

„Eure“ und „unsere“ Geschichte

Ja, auch die deutsche Geschichte wird ja bis heute so gern aufgeteilt in „eure“ und „unsere“, obwohl die jüngeren Generationen in Wirklichkeit ausgebadet haben, was ihre Eltern und Großeltern angerichtet haben, als sie einen Adolf Hitler an die Macht kommen ließen.

Das erweitert natürlich den Horizont. Und da hilft auch nicht das ganze beleidigte Getue darum, was die Alliierten damals in Jalta ausgekungelt haben. Die Teilung war die direkte Folge eines von Deutschland angezettelten Krieges. Gelitten haben gerade die Sensibelsten trotzdem. Und das waren und sind natürlich die Künstler. Sie haben sich mit der eigentlich nicht aushaltbaren Teilung von Anfang an beschäftigt.

Auch was Bernd Lindner hier versammelt hat, ist nur eine Auswahl, die vor allem sichtbar macht, wie viele Künstler/-innen in Ost und West sich immer wieder mit der Mauer und den durch sie erzeugten Zuständen beschäftigt haben. Mit Betonung auf Mauer, denn kein Teil der innerdeutschen Grenze stand so symptomatisch für die Teilung wie die Berliner Mauer. Das „restliche“ Grenzgebiet, das ja wesentlich größer, umfangreicher und noch viel trennender war, kommt in Lindners Auswahl – außer einem Blick auf den gesperrten Brocken – eigentlich nicht vor.

Man kann aber sicher sein, dass es auch dazu zahlreiche Kunstobjekte gibt, in denen Künstler/-innen im Osten wie im Westen die das Land zerschneidende Grenze genauso zum Bildelement gemacht haben, wie das mit der Berliner Mauer ab 1961 war. Wobei Lindner auch kenntnisreich zeigt, dass die Teilung des Landes auch davor schon die Künstler beschäftigt hat.

Womit er von vornherein eine Dimension mit in sein Buch aufnimmt, die in der heutigen Mauer-Nostalgie fast immer ausgespart wird: Die Teilung des Landes selbst, das fortan eben nicht nur zwei Regierungen und zwei verschiedene Wirtschaftssysteme hatte, sondern auch zwei politische Systeme, die sich zutiefst feindlich gegenüber standen, eingebunden in die zwei antagonistischen Blöcke, die – auch mit hochbrisanten Aktionen an Berliner Checkpoints – miteinander den Kalten Krieg ausfochten.

Wobei Lindner eben auch zeigt, dass die Mauer eben nicht nur von Westberliner Künstler/-innen als Störelement und Wunde mitten in der Stadt gesehen und verarbeitet wurde. Das allein wäre schon eine spannende Ausstellung für sich, weil sich hier im Westen etablierte Künstler mit jenen begegnen, die aus dem Osten herübergewechselt waren und wussten, wie schwer und gefährlich es war, diese Mauer zu überwinden.

Und frühzeitig wird auch deutlich, dass es neben den offiziellen Mauerikonen der SED-Propaganda auch im Osten kritische künstlerische Auseinandersetzungen mit der Mauer, der Teilung und dem Gefühl des Ein- und Ausgesperrtseins gab. Solche Arbeiten tauchen selbst in den Nachlässen bekannter Künstler der DDR auf, manche noch viel bedrückender und eindrucksvoller als die Bildfindungen der westlichen Künstler/-innen. Nur dass dergleichen eher keine Chance hatte, auch mal in den Kunstausstellungen der DDR gezeigt zu werden.

Auch hier hat Michael Hametner recht, wenn er immer wieder auf die große Zahl von Künstler/-innen in der DDR verweist, die in der DDR-Zeit marginalisiert und aus der Öffentlichkeit ausgegrenzt wurden und die nachher genauso wenig Beachtung fanden, weil westliche Kuratoren nur die Westkunst kannten und kennen. Aber so, wie Bernd Lindner die Kapitel des Buches zusammenstellt, wird auf einmal sichtbar, dass es die ganze Zeit einen unhörbaren Dialog zwischen den Künstler/-innen im Osten und Westen gab, auch wenn der offiziell gar nicht zu sehen war.

Sie beschäftigten sich – jeder für sich – mit dem Motiv dieser Mauer, die eben nicht nur das Land teilte, sondern auch Schicksale zerschnitt, Hoffnungen und Horizonte begrenzte.

Eingemauerte Zustände

Und damit immer auch doppelte und dreifache Bedeutungen bekam, die dann auf einmal motivisch in Bildern auftauchten, in denen man die Mauer gar nicht vermutet hätte – und doch ist sie da: als Fluchtmotiv, als abgestürzter Ikarus, als störrisches Mauerelement selbst in Bildern, die scheinbar gar nichts mit der Grenze zu tun hatten, als düsterer Schatten oder sogar als eine Vielzahl von Gehenden, die immer häufiger als Motiv bei ostdeutschen Künstler/-innen auftauchten, als das Weggehen, die Ausreise immer mehr zum Symbol der Ausflucht wurde. Eine Möglichkeit, die eingemauerten Zustände zu verlassen.

Da musste man gar nicht – so eindrucksvoll wie Martin Hoffmann – die „Ständige Ausreise“ thematisieren. Da reichte auch schon das Spiel mit dem Gesicht Wolf Biermanns, als dieser ausgebürgert wurde. Oder das motivische Spiel mit Heißluftballon oder Traumlandschaften am Horizont (bei denen Leipzigern ja sofort Wolfgang Mattheuer einfällt).

Denn zum Motiv Mauer gehört geradezu zwangsläufig das Thema Flucht, genauso wie das des Eingesperrtseins und der unlebbaren Träume (die bei Arno Rink bildlich sogar in Flammen ausgehen).

Lindner spricht zwar bei den „langen 1980er-Jahren“ von „Kunst der Agonie“. Aber seine Auswahl macht deutlich, dass gerade die Mauer in den 1980er Jahren immer mehr zum Symbol erstarrter Zustände geworden ist. Und nach Agonie sieht das, was die Künstler gerade im Osten da mit dem Motiv angestellt haben, ganz und gar nicht aus.

Im Gegenteil: Unübersehbar stellten sie mit diesem Motiv immer stärker das Unaushaltbare des Zustandes Ost dar, brachten die Dinge im Bild schon lange in Bewegung, bevor die Menschen zu Tausenden über die Straßen zogen. Gerade die bildende Kunst erweist sich hier als ein lebendiger Seismograph der Wirklichkeit.

Und da auch immer mehr begabte Künstler aus dem Osten in den Westen gingen, verstärkte sich dieser Dialog in Bildern in den 1980er Jahren immer mehr. Nur, dass er eben auch damals nirgendwo zusammengeführt wurde. Das hätten schon die vom Regieren in Ostberlin so völlig Überforderten nie zugelassen. Dabei machten sie immer mehr Fehler, die dann fast zwangsläufig die Mauermotive weiter bereicherten – Kurt Hagers dummer Spruch vom tapezierenden Nachbarn genauso wie das Verbot des „Sputnik“.

Ein Großteil der Politik im Osten erweist sich gerade in der breiten Sicht, die Bernd Lindner anlegt, als wesentlicher Teil von Teilung und Ohnmacht. Denn auch dafür steht eine Mauer: Sie ist der verzweifelte Versuch, den Dingen Einhalt zu gebieten, wieder Kontrolle zurückzuerlangen.

Die Mauer im Kopf

Was dann wieder einfließt in die Mauer-Bilder nach dem 9. November 1989. Denn die Beschäftigung mit dem Thema hörte ja nicht auf, auch wenn diese künstlerische Beschäftigung wieder so gut wie keinen Widerhall in Ausstellungen und Feuilleton fand.

Obwohl es die einmalige Chance gewesen wäre, endlich mal alle Stimmen zusammenzuführen, auch die skeptischen und ängstlichen, wie etwa Werner Tübke mit seinen Mauerbildern, der ja nicht der einzige war, der spürte, dass das Türen- und Fensteraufreißen allein nicht genügen würde. Denn die finsteren Schatten waren ja sofort sichtbar – als Reichskriegsflagge und in martialischen Nazi-Umtrieben. Mit der Maueröffnung kamen auch alle deutsch-deutsch nicht bewältigten Probleme wieder auf die Tagesordnung.

Und logischerweise mündete eine derart über vier Jahrzehnte (getrennt) geübte künstlerische Diskussion über Trennung und Mauer in den folgenden Jahren auch in die Diskussion dessen, was folgte, was eben nicht – wie Willy Brandt gehofft hatte – zusammenwuchs. Im Gegenteil: Beide Seien bemühten sich fortan noch viel emsiger, das Trennende und Fremde am anderen zu betonen. Denn wer teilt, herrscht.

Zumindest in den Köpfen. Und so taucht auch die Mauer immer wieder als Motiv auf, sehen sich auch jüngere Künstler/-innen immer wieder herausgefordert, sich mit diesem Trennelement zu beschäftigen, von dem wir alle wissen, dass einige Leute es immer noch in ihren Köpfen mit sich herumschleppen. Und das sind nicht nur die Unbelehrbaren im Osten.

Es bestimmt die ganze deutsch-deutsche Nicht-Diskussion und sorgt dafür, dass auf einmal sogar das Paradies wieder auftaucht als bildliches Element. Nur liegt das schon wieder irgendwie hinter Mauern, unerreichbar geworden für Adam und Eva, die ziemlich demotiviert dreinschauen in Michael Triegels Bild. Das man natürlich auch als Satire lesen kann auf falsche Paradies-Versprechen.

Ein Fazit muss man gar nicht ziehen. Das Buch spricht für sich – und in sehr ausführlichen Texten erläutert Bernd Lindner natürlich auch, warum die Bilder in den Band gefunden haben, wann und wie sie entstanden sind und wo sie gefunden wurden. Oft liegen sie heute noch in den Nachlässen der Künstler, ein ungehobener Schatz. Denn einer solchen Ausstellung mit diesen Bildern wäre im Jahr 2021 Zuspruch sicher gewesen.

Ganz zu schweigen davon, dass so eine Zusammenschau endlich mal gezeigt hätte, dass die Mauer die deutsche Kunst nicht nur getrennt hat, sondern auch ein gemeinsames Motiv und Problem war. Und dass sich die Bildsprachen Ost und West auf erstaunliche – oft erschütternde Weise – ergänzen. Bisher gab es noch keinen Kunstbildband, der so eindrucksvoll gezeigt hätte, dass erst dann ein Ganzes draus wird, wenn man beide Teile zeigt und beide Herangehensweisen ernst nimmt.

Erst so entsteht Vielfalt im Gemeinsamen. Und hört diese Über-den-anderen-Reden auf, den man gar nicht kennt. Und nie kennenlernen wollte. Obwohl seit 1989 alle Türen offenstehen. Aber es sind eben nicht nur Ostdeutsche, die ihre Mauer noch im Kopf haben. Es sind auch die Eliten im Westen, die die Mauer in eigenen Kopf nicht sehen, weil sie immer mit dem Rücken zum Osten stehen.

Deshalb erleben selbst junge Kunststudenten aus dem Westen den Osten wie eine Wundertüte, wenn sie hier zum ersten Mal erfahren, dass es 1989 eine Friedliche Revolution gegeben hat. So ist das, wenn in Geschichtsbüchern immer nur die Hälfte steht und in Museen immer nur die Hälfte hängt.

Dieses Buch zeigt erstmals, wie wichtig und spannend allein das Motiv Mauer und Teilung in der jüngeren deutschen Kunstgeschichte zu finden ist, wenn man nur mal seine Scheuklappen ablegt und wahrnimmt, was in den Sammlungen zum Thema alles vorhanden ist und regelrecht danach schreit, endlich wahrgenommen zu werden.

Bernd Lindner „Über Mauern“, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2021, 7 Euro zzgl. Versandkosten, bestellbar im Shop der BpB.

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