Torgau hat einen sehr aktiven Geschichtsverein, dem es ein Herzensanliegen ist, die Geschichte der einstigen sächsischen Residenzstadt auch in einer anspruchsvollen Schriftenreihe zu beleuchten. Dazu lädt der Verein auch kompetente Autoren ein, die sich – wie der Historiker Alexander Querengässer – sowieso schon mit zumeist „vergessenen“ Kapiteln der sächsischen Geschichte beschäftigen. Und der Große Nordische Krieg passt tatsächlich nicht in das Bild, das die Sachsen so gern von sich malen.

Weshalb schon das einleitende Kapitel seinen Reiz hat, in dem Querengässer erst einmal erklärt, was der Große Nordische Krieg eigentlich war und welche Rolle Sachsen in diesem letztlich siebzehn Jahre dauernden Krieg (1700 bis 1717) spielte – nämlich eine sehr kriegerische.Kurfürst August der Starke führte mehr Kriege als das benachbarte Preußen, das ja ab 1713 bekanntlich von Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. regiert wurde. Der ließ sich zwar genauso gern wie August der Starke im kriegerischen Ornat abbilden – aber seine schöne Armee schonte er lieber.

Während es Kursfürst August von Sachsen fertigbrachte, sich wegen der polnischen Königskrone in einen Machtkampf mit dem schwedischen König Karl XII. zu stürzen, der ihn letztlich ganze Armeen kostete.

Und das, obwohl beim ersten Angriff auf Livland scheinbar die Übermacht klar auf der Seite Sachsens, Dänemarks und Russlands lag, die als Verbündete agierten. Aber sie brachten das mit der Koordination ihrer Truppen nicht hin und der Schwedenkönig schlug sie alle einzeln und die sächsischen Truppen sogar vernichtend.

Querengässer attestiert August zwar eine gewisse Unfähigkeit, sich als mutiger Feldherr zu behaupten. Aber seine Kurzfassung des Krieges zeigt eher die Zögerlichkeit und Unlust von Augusts Generälen, sich wirklich dann in die Schlacht zu werfen, wenn es drauf ankam. Sie wichen lieber aus, zögerten, zersplitterten die Truppen.

Am Ende gerieten über 15.000 sächsische Soldaten in Gefangenschaft, wurden nach Schweden deportiert und dort von König Karl regelrecht aufgefordert, sich eine schwedische Braut zu suchen und die Bevölkerungszahl seines Landes kräftig zu erhöhen. Eine Idee, auf die im damaligen Kurfürstentum Sachsen niemand gekommen wäre.

Sächsisches Genörgel anno 1700

Und auf einmal wird einem sehr vertraut, was Querengässer erzählt. Von den Klagen der Torgauer Zünfte, es gäbe nicht genug Arbeit für die ansässigen Handwerker, bis zum massiven Widerstand der Städte gegen die Einwanderung der aus Frankreich vertriebenen Hugenotten.

Und keineswegs erstaunt stellt Querengässer fest, dass die Argumentation nur zu sehr an die sächsische Gegenwart erinnert. Als hätten die Sachsen einfach nichts aus der Geschichte gelernt und sich ein paar Selbsterzählungen zugelegt, in denen sich Pantoffeligkeit mit Selbstbetrug paart.

Denn zu diesem Selbstbetrug gehört ja auch die behauptete Friedfertigkeit der Sachsen, die sich nur zu gern als Bewohner eines friedlichen Landes sahen und sehen, das immer nur von anderen Mächten überfallen wurde. Und wenn es dann hart auf hart kam, stand man ohne Selbstverschulden immer wieder auf der falschen, nämlich der Verliererseite.

Dabei markiert der Versuch König Augusts, mit sächsischen Truppen seine Stellung als gewählter König von Polen zu stärken und das polnische Territorium um das von den Schweden besetzte Livland zu vergrößern, auch den letzten Versuch Sachsens, sich als eine militärische Macht in Mitteleuropa zu behaupten. Am Ende hatte er nicht mal mehr genug Truppen, um das Territorium des Kurfürstentums vor dem Einmarsch der schwedischen Truppen zu schützen.

Ein fast vergessener Krieg

Ein Punkt, an dem natürlich Querengässer auch die Diskussion um die Festungsstadt Torgau anknüpfen kann. Immerhin gab es in Torgau die einzige Elbbrücke zwischen Wittenberg und Meißen. Entsprechend war der Brückenkopf nördlich der Elbe auch gesichert. Aber eine wirklich gut ausgebaute Festung war die alte Residenzstadt zu diesem Zeitpunkt nicht – anders als 100 Jahre später in den napoleonischen Kriegen.

Es gab eine kleine Besatzung der Festung. Aber selbst in den Verteidigungsplänen des Kurfürstentums spielte Torgau kaum eine Rolle. Was auch ein Grund dafür ist, dass es im Großen Nordischen Krieg keine erzählenswerten Kampf- und Belagerungsepisoden gibt, die für gewöhnlich erst dafür sorgen, dass eine Stadt dann auch schön martialisch in den üblichen Historien auftaucht.

Wobei Querengässer ja auch für ganz Sachsen das Phänomen feststellen kann, dass der Nordische Krieg so gut wie gar nicht erinnert wird – ganz anders als der Dreißigjährige Krieg, der Siebenjährige Krieg oder gar die Napoleonischen Kriege.

Der Hauptgrund dafür ist: Karl XII. besetzte Sachsen zwar und zwang August den Starken mit dem Altranstädter Frieden zur Kapitulation und zum Verzicht auf die polnische Krone. Aber es kam auf sächsischem Territorium zu keinen Schlachten. Karl wies seine schwedisch-polnischen Truppen sogar an, strenge Disziplin zu wahren.

Was er freilich durchsetze, waren durchaus deftige Kriegskontributionen, die auch die Torgauer nur mit Ach und Krach zu leisten vermochten. Kontributionen, die freilich damals im Kriegsfall normal waren, denn die Heere ernährten sich aus den Ländern, die sie besetzt hielten. Ein Großteil der kassierten Gelder wurde gleich wieder in die Mannschaftsverpflegung investiert.

Die Symbiose von Stadt und Militär

Keine Schlachten? Keine Belagerungen? Was erzählt dann ein Historiker über eine Stadt wie Torgau? Gibt es da überhaupt etwas zu erzählen? – Das Buch zeigt: eine Menge. Denn natürlich hörte Torgau in der Zeit nicht einfach auf, eine Festungsstadt zu sein, wenn auch mit in der Regel kleiner Mannschaftsbesetzung und akutem Platzmangel, wenn mal mehr als die Handvoll Festungssoldaten hier einquartiert wurden.

Denn da es keine Festungskasematten gab, lagerten die Heere dann entweder auf freiem Feld direkt vor der Stadt – mit allen unhygienischen Folgen. Oder sie wurden (was eher die Regel war) direkt in der Stadt bei den Bürgern einquartiert. Was – wie Querengässer betont – auch die Gefahr einer Desertion deutlich minderte, ein Problem, das allen Kriegsführenden im Nordischen Krieg Probleme bereitete.

Denn Soldaten wurden in der Regel geworben. Dazu zogen Werber durch die Lande und arbeiteten teilweise auch mit gewalttätigen Methoden. Aber auch jene Soldaten, die sich mit einem Handgeld werben ließen, nutzten nur zu gern die Gelegenheiten, in denen die Generäle nicht mehr die volle Kontrolle über die Truppen hatten, zur Flucht.

Dass das für manche Deserteure auch mit einer Hinrichtung endete, spart Querengässer nicht aus, der – um ein möglichst vollständiges Bild zu gewinnen – die alten Ratsprotokolle aus Torgau genauso gründlich durchforstet hat, wie die zugehörigen Akten im Staatsarchiv. So bekommt man ein recht detailreiches Bild von der Funktionsweise Torgaus als eher drittrangige Festungsstadt, die mal eine Rolle in der geplanten Landesverteidigung spielte, dann wieder gar keine.

Konfliktbelastet oder friedlich?

Zeitweise waren auch schwedische Soldaten in Torgau inhaftiert – und das in Gebäuden, bei denen heute kein Stadtführer auf die Idee käme, darin die zeitweilige Unterkunft von Kriegsgefangenen zu vermuten. Querengässer versucht anhand der Akten, möglichst auch nachzuvollziehen, wie Stadt und Bürger herangezogen wurden, die Unterbringung der Schweden zu finanzieren.

Er beleuchtet auch den Umgang der Stadt mit den immer wieder hier untergebrachten Truppenverbänden, merkt aber zu Recht an, dass die Gerichtsakten dazu wohl schon früheren Historikern ein völlig falsches Bild suggeriert hatten. Nämlich eines, das die Beziehung von Bürgerschaft und Militär nur konfliktgeladen zeigte, obwohl die Gerichtsprotokolle ja eindeutig nur die Konflikte zeigen.

Nach Akten, die wirklich das Gesamtbild zeigen, muss man schon mit der Lupe suchen. Denn natürlich stimmt, was Querengässer feststellt: Wenn Beziehungen friedlich und geregelt ablaufen, wird das meist nirgendwo aktenkundig. Offizielle Protokolle erzählen viel mehr davon, dass es dem Torgauer Rat eigentlich immer gelang, die Beziehungen zum Militär zu beiderseitiger Zufriedenheit zu gestalten.

Beziehungen, die sich anhand einiger Ratsrechnungen auch nachvollziehen lassen. Denn gerade für den geschilderten Zeitabschnitt gilt eben auch, dass Torgau von der Anwesenheit des Militärs auch wirtschaftlich profitierte. Tuchmacher, Schumacher, Bäcker, Brauer, Fleischer – sie alle lebten zu einem nicht unerheblichen Teil auch davon, dass die anwesenden Truppen ihren Bedarf vor Ort deckten.

Wenn Bürgersöhne nicht zu den Waffen wollen

Wobei sich die militärischen Ebenen auch noch überschnitten, denn neben dem offiziellen Heer gab es ja auch noch die Landesdefensionen, also eine Art Landmiliz, zu der auch Torgau immer wieder Dienstwillige beisteuern musste, ab 1709 als Kreisregimenter neu formiert. Und dazu kam noch die Torgauer Bürgerwehr, wie es sie historisch gewachsen in allen sächsischen Städten gab – hier mussten die Torgauer Zünfte anteilig ihre Männer entsenden, die dann sogar mit für die Zeit guten Gewehren das Scharfschießen übten.

So entsteht ganz nebenbei eben auch ein Bild dieser Festungsstadt, die sogar noch ein wenig den alten Glanz der Residenzstadt gewahr hatte, das die König-August-Legenden teilweise konterkariert. 1711 fand hier sogar noch die durchaus spektakuläre Hochzeit des russischen Thronfolgers Alexej und der braunschweigischen Prinzessin Charlotte Christiane Sophie statt.

Als Zarin ist sie kaum in Erinnerung geblieben, denn schon 1715 starb sie an Kindbettfieber. Aber zur Hochzeit reiste selbst Peter I. an, was dann in Torgau zur Bekanntschaft des aus Braunschweig angereisten Wilhelm Gottfried Leibniz mit dem Zaren führte, der ihn zutiefst beeindruckte.

Die Namen verraten ja schon, wie sehr das kleine Kurfürstentum Sachsen in dieser Zeit mitten im europäischen Zeitgeschehen stand. Dort, wo August der Starke nur zu gern mitspielen wollte. Nur dieser Krieg – der kostete ihn nicht nur jede Menge Geld und Soldaten, er kostete ihn letztlich auch den Rang, den er eigentlich mit der polnischen Königskrone angestrebt hatte.

Und schon die zeitgenössischen Historiker begannen deshalb, die sächsische Geschichte einfach mal anders zu erzählen, schön gruppiert um den prächtigen König-Kurfürsten und seine verschwenderischen Ausgaben für Schlösser und Kunstsammlungen. Statt des Kriegerkönigs, der in Polen den größten Teil seiner Armee verheizte, erinnert man an den Kunstmäzen und den Liebhaber prächtiger Mätressen wie der Gräfin Cosel, mit der er dann aber auch nicht besser umging als mit dem Leipziger Bürgermeister Romanus.

Ein nicht gefeiertes Kriegsende

Dass die Torgauer dann den Friedensschluss von 1717 nicht so feierten wie frühere Siege, erklärt Querengässer auch mit der Tatsache, dass es für Sachsen zu dem Zeitpunkt eigentlich nichts zu feiern gab. Nicht mal das noch einmal mit Truppen unterstütze Engagement in Schwedisch-Pommern hatte für Sachsen am Ende einen Nutzen gebracht.

Statt dass Sachsen künftig in Pommern das Sagen haben würde, waren es die Preußen, denen das schwedische Besitztum wie ein reifer Apfel in den Schoß fiel. Auf seinen Kriegskosten blieb Sachsen allein sitzen, was den wieder zum polnischen König gewordenen August (diesmal freilich nur mit russischer Unterstützung) dazu zwang, 60 Prozent seiner Truppen zu entlassen und einen rigiden Sparkurs einzuführen.

Was dann auch erst einmal das Ende für die großen Heeresgeschäfte des Leipziger Kaufmanns Rudolf Ludwig Langguth bedeutete, der in Torgau eine der ersten großen Manufakturen Sachsens aufgebaut hatte, mit der er große Lieferaufträge für das sächsische Heer übernahm. Vielleicht war es gar kein Zufall, dass er 1717 starb, dem Jahr, als auch der Krieg offiziell endete und August mit dem Abbau der Truppen begann.

Was mit Querengässers Arbeit deutlicher wird, ist die enge Verflechtung von Militär und Bürgerschaft im aus heutiger Perspektive geradezu kleinen Torgau mit seinen 2.800 Einwohnern. Wobei sich die Bevölkerungszahl durch Einquartierungen sehr schnell vervielfachen konnte. So gesehen müssen gerade die Torgauer Handwerker denn doch sehr leistungsfähig gewesen sein, wenn sie ohne größere Probleme die Verpflegung tausender Soldaten gewährleisten konnten. Auch wenn es – nach einigen Missernten – auch schnell zu heftigen Preisanstiegen kommen konnte, von denen alte Akten ebenso berichten.

Die nicht-heroische Seite des Krieges

Mit Querengässers Arbeit bekommt man praktisch jene Seiten eines Krieges zu sehen, die in den üblichen Schlachten-Historien selten bis nie gezeigt werden. Da und dort schimmert die berechtigte Angst der Stadtbewohner vor einer möglichen Belagerung oder dem Durchzug auch fremder Truppen auf – selbst wenn es „nur“ preußische Truppen waren.

Die Erinnerungen an die Tragödien des Dreißigjährigen Krieges, von dem sich Torgau um 1700 noch nicht wirklich erholt hatte, waren ja noch lebendig in Erinnerung. Aber andererseits beleuchtet Querengässer mit dem Blick auf die durchaus streitbar ausgetragenen Bürgerversammlungen, dass auch das Märchen vom absolutistisch regierenden König August nur ein Märchen ist.

Sachsen war auch unter August dem Starken kein zweites Frankreich und der durchaus machtbewusste Kurfürst war darauf angewiesen, mit den Ständen und Städten in Übereinkunft zu regieren. Nicht einmal Steuern konnte er nach Gutdünken erheben. Und wenn es um die Aushebung neuer Rekruten ging, waren selbst die Magistrate gegenüber den unwilligen Bürgern oft machtlos.

Man hat es also durchaus auch mit einer selbstbewussten Bürgerschaft zu tun, die mit teils sehr konservativen Weltsichten (siehe die Verweigerung, Hugenotten aufzunehmen) durchaus wusste, wo die Macht des Königs und seiner Beamten endete. Auch das erinnert durchaus an die Gegenwart. Indem Querengässer hier detailreich den Blick auf das Leben in einer sächsischen Festungsstadt lenkt, wird ein ganzes Stück sächsischer Geschichte greifbar, wie sie so in den offiziellen Landeslegenden nicht auftaucht.

Ohne Glanz und Gloria, mit Kurfürst trotzdem, denn August der Starke weilte des Öfteren auf Schloss Hartenfels, denn in der Nähe – in Pretzsch – residierte ja seine Ehefrau Christiane Eberhardine, die sich geweigert hatte, mit August den katholischen Glauben anzunehmen und die dafür von den Landeskindern geliebt wurde. Landeskinder, die in dieser Zeit einem sehr strengen, orthodoxen Luthertum anhingen. Dieser Aspekt taucht nur ganz kurz auf in Querengässers Buch – etwa mit den Zitaten des Pfarrers, mit denen er die Sicht auf Krieg und Frieden wenigstens aus einer Perspektive zu Wort kommen lässt.

So wird das ein Buch, das nicht nur geschichtsinteressierte Torgauer mitnehmen dürfte in eine Zeit, die doch eine gewaltige Ecke anders war, als in den üblichen sächsischen Unser-König-Geschichten. Irdischer, deutlich näher dran am realen Leben der Sachsen, die sich so gern mit dem Glanz aus Dresden schmücken, auch wenn sie nur einfache Bierbrauer und Büchsenmeister in Torgau sind.

Alexander Querengässer Torgau im Großen Nordischen Krieg, Sax Verlag, Beucha und Markkleeberg 2021, 22,80 Euro.

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